„Ich wollte nicht glauben, dass ich am Rande einer schrecklichen Prüfung stand.“
Alexej Petrowitsch Kondratzew (geb. 1927)* war ein sowjetischer Zwangsarbeiter und Konzentrationslager-Gefangener.
Alexej wurde in Nordkasachstan in einer Bauernfamilie geboren. Sein Großvater wurde während der Kollektivierung entkulakisiert und in das Lager Solowki (heute Gebiet Archangelsk, Russland) verbannt. Aus Angst vor Verfolgung gingen Alexejs Eltern in den Donbas (Ukraine). Ohne Dokumente konnte sein Vater dort nur in einem Bergwerk arbeiten. Die Familie litt schwer unter der Hungersnot in den 1930er Jahren, Alexejs kleine Schwester starb. 1937 fürchteten seine Eltern stalinistische Repressionen, schliefen nachts oft nicht und erwarteten ihre Verhaftung.
Zu Beginn des Krieges mit Deutschland lebten sie in Armut in einer Erdhütte im Dorf Oleniwka (Gebiet Luhansk, Ukraine). Alexej war zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre alt. Die deutschen Okkupationsbehörden verschleppten etwa 30–40 Jungen und Mädchen aus dem Dorf und erklärten, sie würden nach Deutschland zur Arbeit gebracht. Darunter waren auch Alexej und sein Freund. Sie hofften, dass sie auf einen Bauernhof kommen würden:
„In der Landwirtschaft hätten wir fleißig gearbeitet, Hauptsache wir hätten Essen gehabt, das war alles.“
Aber bei der Verteilung in Erfurt (Thüringen) kamen eher ältere und stärkere Männer auf Bauernhöfe. Jugendliche wurden in die Fabrik geschickt. Das Essen war dürftig. Aleksej und sein Freund beschlossen zu fliehen. Die Jugendlichen wurden gefasst und zur Bestrafung verprügelt. Darauf saßen sie einen Monat im Magdeburger Gefängnis (Sachsen-Anhalt) und später in einem Lager in Sachsen-Anhalt.
Von dort wurden sie im Dezember 1942 in der Vorweihnachtsnacht ins KZ Sachsenhausen (Brandenburg) etappiert. Im Waggon waren 156 Menschen, es war sehr eng und stickig. Sechs Menschen starben auf der Fahrt. Als sie abends im Lager ankamen, wurden sie vor dem Eingangstor aufgereiht. Alexej erkannte klar, dass er vor einem Wendepunkt in seinem Leben stand:
"Wir schauen uns das Ganze an. Sie können sich doch ein Lager vorstellen. Unheilvoll. Desinfektion. Waschraum, Rasur, da, wo es zugewachsen war. Es wurde radikal rasiert, wir bekamen abgetragene Kleidung. Eine Eiseskälte, 24. Dezember, das müssen Sie sich vorstellen. Dünne Kleidung und Holzschuhe. Und los ging's. (...) Ich war 15 Jahre, einen Monat und 12 Tage alt. So jung war ich. Meine Nummer war 54627."
Eine Zeichnung vom Haupteingang des Lagers, mit der Aufschrift auf dem Lagertor. Autor: M.P. Shcherbina. Archiv Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen.
Viele Jahre später denkt Alexej in einem Interview für die Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen darüber nach, was ihm in der Zeit, die die größte Prüfung seines Lebens war, zum Überleben half:
„Man kann sich an die erste Nacht nicht ohne Tränen erinnern. (…) Das war der Moment der Wahrheit, wie man sagt. (…) Die Verzweiflung zerfraß Menschen, dies dauerte, sagen wir, nicht nur eine Nacht, sondern mehrere. (…) Ich wollte nicht glauben, dass ich am Rande einer schrecklichen Prüfung stand. (…) Um diese Nacht zu überleben, brauchte ich gewissen Mut, eine gewisse Kraft. Ich schätze, dass meine arme Kindheit mich abgehärtet hat. Dies half mir beim Überleben. Denn wäre an meiner Stelle ein Kind dieses Alters aus einem europäischen Land gewesen, es hätte es, glaube ich, viel schwieriger gehabt.“
Am Ende der zweiwöchigen Quarantäne wurden alle Jugendlichen in eine „Jugendbaracke“ eingewiesen und zur Arbeit geschickt. Der Aufseher der Baracke war ein Deutscher namens Erich Koch, an den sich Alexej mit großer Dankbarkeit erinnert. Laut Aleksej versuchte dieser, die Not der Jugendlichen zu lindern, indem er ihnen leichtere Arbeiten vermittelte oder Bedingungen schuf, unter denen sie in kurzen freien Minuten malen und singen konnten; manchmal organisierte er kleine Feste mit Leckereien, damit „die Kinder das Lachen nicht verlernten“. Es gelang ihm, nicht abgeholte Pakete vor allem an sowjetische Häftlinge zu verteilen, die keinerlei Sendungen bekamen. Erich Koch ließ die Kinder abends nicht aus der Baracke raus, um sie vor Belästigungen seitens erwachsener Häftlinge zu schützen. Die Figur des Aufsehers, der sich fürsorglich am Leben der jugendlichen Häftlinge beteiligte, prägte Alexejs Einstellung zu Deutschen im Allgemeinen und brachte ihn dazu, Menschen nicht nach ihrer Nation zu beurteilen:
Jugendbaracke – Baracke für minderjährige Häftlinge, unter 18 Jahren.
"Hier, bitte, so waren die Deutschen. Solch eine Begegnung hatte ich. Wie konnte sich ein Kind das erklären? Auf der einen Seite Faschismus, Grausamkeit und Heimtücke und auf der anderen Seite solch eine Großzügigkeit. Nun, was soll ich sagen, dank eben diesen Deutschen, Menschen, Vertretern derselben Nation, blieb ich am Leben, sie halfen mir zu überleben."
Zeichnung „Briefe und Paket vom Roten Kreuz“. Archiv Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen.
Trotzalledem war Alexejs Arbeit im ersten Jahr im Lager hart, nicht jeder Erwachsene war in der Lage, sie zu bewältigen. Zunächst arbeitete er draußen. Wegen Kälte und schlechter Bekleidung erkrankte Alexej an einer Lungenentzündung und kam auf das „Revier“, wie die Krankenstation im Lager genannt wurde. In Sachsenhausen gab es mehrere Arten von „Revieren“: Im ersten wurden hauptsächlich Europäer behandelt, während Juden und Sowjetbürger in der Regel ins vierte Revier kamen. Seine Besonderheit waren dreistöckige Betten, die es dem Arzt unmöglich machten, sich dem Patienten zu nähern und ihm zu helfen. Dort konnten mehrere Personen in einem Bett liegen, es fand keine medizinische Behandlung statt. Der Aufenthalt im vierten Revier bedeutete praktisch den Tod. Überraschenderweise kam Alexej ins erste Revier. Er blieb über mehrere Tage bewusstlos. Als er aufwachte, fragte ihn ein Pfleger auf Tschechisch, wie er sich fühlte und was er essen wollte. Zu seiner eigenen Überraschung bat Alexey um einen Apfel. Der Pfleger ging auf seine Bitte ein, teilte sie dem deutschen Arzt mit, dieser einigte sich wiederum mit einem Häftling, der vor Kurzem ein Paket erhielt:
„Am nächsten Morgen wachte ich genauso auf und nahm einen Geruch wahr. Und da wurde mit einer Art deutschen Gründlichkeit ein Teller auf dem Nachttisch platziert, darauf lag ein geschnittener Apfel und den habe ich gegessen. Ich glaube, der hat mich geheilt.“
Die Jugendbaracke von Alexej befand sich neben der Baracke für Kriegsgefangene, so dass sie miteinander kommunizieren konnten. Zu Alexejs Arbeitskommando gehörte Otto Walter, ein deutscher Kommunist, der wegen seiner oppositionellen Aktivitäten im Lager saß. Nachdem Alexej Deutsch gelernt hat, weihte ihn Otto Walter in die Geheimnisse des Widerstandskomitees im Untergrund ein. Alexej informierte Kriegsgefangene darüber, welche Städte von der Roten Armee besetzt und befreit wurden. Alle warteten auf diese Nachrichten, aber ihre Weitergabe konnte zu schweren Strafen führen.
Ab 1943 arbeitete Alexej in Werkstätten und auf Baustellen oft mit deutschen Insassen, die ihm die Sprache, sowie das Tischler- und das Bauhandwerk beibrachten und mit Ratschlägen halfen.
Am 21. April begann die Auflösung des Lagers. Die Insassen wurden auf Fußmärschen aus dem Lager getrieben. Diesen Marsch nannten die Häftlinge „Todesmarsch“, weil viele Menschen ihn nicht überlebten. Die Insassen bildeten Gruppen zu je hundert Personen. Alexej kam in eine Gruppe mit kranken und geschwächten Gefangenen. Der Marsch war langsam, qualvoll und forderte viele Tote:
„Wir marschierten die halbe Nacht, bis dahin hatten die Leute noch Kraft, dann begannen sie zusammenzubrechen. (…) [Ein Wachmann] erschoss einen, jeder konnte die Erschießung sehen. Horror breitete sich aus! Die Kräfte schwanden dennoch immer mehr. Wir durften Decken mitnehmen. Wenn ein Mensch zusammenbricht, versteht er, dass gleich der letzte Schuss kommt. Also bedeckt er seinen Kopf mit der Decke zu und schreit. Und da ist der Schuss. Noch ein Schuss. Noch ein Schuss. Noch ein Schuss. (…) Aus meiner Hundertschaft überlebten etwa 18 Menschen. Es war eine Mordorgie, eine schreckliche Vernichtung von Menschen.“
Vor dem Todesmarsch arbeitete Alexej in einer Bäckerei. Dort gelang es ihm, etwas Mehl zu bekommen. Bei Halt verdünnten er und seine Mithäftlinge dieses mit Wasser und aßen es als Suppe. Nach einigen Tagen holten Fahrzeuge des Roten Kreuzes die Gruppe ein. Diesmal wurde die humanitäre Hilfe an alle verteilt. Man einigte sich sogar darauf, Kranke und Ausgemergelte mit den Autos abzutransportieren. Der Rest wurde in Richtung Parchim (Mecklenburg-Vorpommern) getrieben. Am 1. Mai 1945 befreiten sowjetische Truppen die Häftlinge des Todesmarschs.
Abguss eines Rindenstücks aus dem Belower Wald mit der Aufschrift „Hier waren Russen“. Archiv des Museums und der Gedenkstätte Sachsenhausen.
Nach der Befreiung diente Alexej sechs Jahre lang in der sowjetischen Armee in der sowjetischen Besatzungszone. Weil er gut Deutsch sprach, wurde er zum Dolmetscher des Garnisonskommandanten. Doch aufgrund des Misstrauens sowjetischer Behörden gegenüber allen Lagerinsassen war besonders beim Militär eine Beförderung unmöglich. Auch Alexejs Bewerbung an der pädagogischen Hochschule wurde abgelehnt.
Er konnte lediglich einen Schnellkurs für Bergbautechniker absolvieren und arbeitete danach in seinem Fachgebiet. Er heiratete, die Familie hatte zwei Kinder. Im Jahr 1968 zogen sie nach Donezk (Ukraine).
Alexej war über viele Jahre Vorsitzender der regionalen Donezker Organisation der KZ-Häftlinge und setzte sich aktiv für die Notwendigkeit von Entschädigungszahlungen für die Opfer ein.
* Genaue Lebensdaten sind unbekannt.
Verfasserin: Vera Yarilina
Quellen: Die Biographie basiert auf Interviewmaterialien von Alexej Kondratzew mit der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen.