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Sowjetische Kriegsgefangene im deutschen Gewahrsam

Sowjetische Kriegsgefangene sind Soldaten und Offiziere der Roten Armee, die während des Zweiten Weltkriegs von deutschen Truppen gefangen genommen wurden. Ihre Behandlung in deutscher Gefangenschaft ist besonders grausam und unmenschlich. Die Ernährungsnormen und Unterbringungsbedingungen für sie sind schlechter als für Kriegsgefangene aus anderen Staaten. Dabei spielte auch die nationalsozialistische Ideologie eine Rolle, also Antisemitismus, Rassismus, Antislawismus und Antikommunismus. Auf deutscher Seite bestimmt die Vorstellung, dass diese Gefangenen nicht als vollwertige Menschen betrachtet werden sollten, das Verhalten zu ihnen und ihren Gewahrsamsbedingungen. Die internationale Rechtsgrundlage für die Behandlung der Kriegsgefangenen sind das Haager Abkommen von 1907 und das Genfer Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen von 1929.[1] Deutschland unterzeichnet beide Dokumente, setzt Ihre Anwendung in Bezug auf sowjetische Kriegsgefangene jedoch bewusst aus.  

Die genaue Zahl der sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Gefangenschaft ist immer noch Gegenstand von wissenschaftlichen Diskussionen. Als Gesamtzahl wird häufig die Zahl 5,7 Millionen genannt. Die Sterblichkeit unter den sowjetischen Kriegsgefangenen ist sehr hoch: bis zu 3,3 Millionen Menschen kommen um, also mehr als 50%. Bei britischen und amerikanischen Truppen in deutscher Gefangenschaft liegt sie bei etwa 3%, bei französischen bei 2,8%, bei polnischen bei 2–4% und bei italienischen bei 6–7%. Die überwiegende Mehrheit der Soldaten und Offiziere der Roten Armee gerät in den Jahren 1941–1943 in Gefangenschaft. Die hohe Todeszahl resultiert aus den unmenschlichen Bedingungen bei Transporten und in den Lagern. Erschöpft Zurückbleibende werden erschossen, im Winter erfrieren viele in offenen Waggons. In den Lagern fehlen anfangs einfachste Unterkünfte, Hygiene und Versorgung sind völlig unzureichend. Bestimmte Gruppen unter den Gefangenen werden gezielt ermordet. Die politischen Funktionäre der Roten Armee (Politkommissare und Politruks) werden bis Mai 1942 auf der Grundlage des sogenannten „Kommissarbefehls“ des Oberkommandos der Wehrmacht vom 6. Juni 1941 erschossen.[2] Das gleiche Schicksal erleiden jüdische Rotarmisten. Mitunter werden auch weibliche Armeeangehörige ermordet oder an Konzentrationslager, wie z.B. Ravensbrück, überstellt. Es kommt vereinzelt auch zu Morden an muslimischen Rotarmisten oder an Gefangenen aus den zentralasiatischen Republiken der Sowjetunion. Sowjetische Kriegsgefangene werden auch Opfer von medizinischen Experimenten. 

Die nichtbeachteten völkerrechtlichen Standards wirken auf das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen vom Beginn der Gefangenschaft bis zu ihrem Tod oder ihrer Befreiung ein. Zuerst kommen sie in provisorische Lager bei Divisionen, die über keinerlei Ausstattung verfügen und marschieren über Armee-Gefangenen-Sammelstellen in kräftezehrenden Fußmärschen zu Durchgangslagern (Dulags). Hier erfolgt eine weitere Aufteilung: Die Offiziere werden in Offizierslager (Oflag), Soldaten und Unteroffiziere in Stammlager (Stalag) geschickt. Jedes Lager hat seine eigene Nummerierung oder Abkürzung. Außer großen Lagern gibt es viele kleine in der Nähe von Betrieben, in denen Kriegsgefangene arbeiten, wo einige hundert Menschen untergebracht werden konnten. Solche Arbeitslager oder „Arbeitskommandos“ sind seit 1942 besonders verbreitet, als die Arbeit der Kriegsgefangenen in Industrie und Landwirtschaft in Deutschland verstärkt genutzt wird. Kontakte zur deutschen Zivilbevölkerung werden unterbunden, Hilfsstellungen an Kriegsgefangene sind verboten und werden gesetzlich bestraft. Jeder Gefangene erhält seine persönliche Lagernummer, die zumeist auf einem Metalltäfelchen steht. Diese Tafel muss um den Hals getragen werden. 

Das nationalsozialistische Regime versucht, sowjetische Kriegsgefangene verschiedener Nationalitäten zu spalten und sie dazu zu bringen, gegen die Sowjetunion zu arbeiten. Manche sowjetischen Kriegsgefangenen gehen darauf ein, um zu Überleben oder aus politischen Gründen. Nach 1943 häufen sich die Fälle von Flucht aus den Lagern, Sabotage bei der Arbeit und anderen Widerstandsaktivitäten. Im Falle der Entdeckung folgt unmittelbar eine schwere Strafe bis hin zur Erschießung.  

Trotz der unerträglichen Bedingungen in deutscher Gefangenschaft betrachten Stalin und die Führung der UdSSR die Gefangenschaft der Rotarmisten als Verrat. Begleitumstände, wie Verletzungen, Einkesselung usw., spielen bei dieser Bewertung praktisch keine Rolle. Der Befehl Nr. 270 des Hauptquartiers des sowjetischen Oberkommandos vom 16. August 1941 verlangt von den Rotarmisten, „aufopferungsvoll bis zur letzten Möglichkeit zu kämpfen“ und widerstandslose Gefangengaben, wenn nötig mit Gewalt, zu verhindern. Im Falle einer solchen Gefangengabe wird die Verantwortung auch auf die Familien übertragen, dies betrifft insbesondere Familien von Offizieren und politischen Funktionären. Ihnen werden staatliche Unterstützung und Hilfen entzogen, ihre Frauen und Kinder kommen als „Familienmitglieder eines Vaterlandverräters“ in Gefängnisse und Lager.  

Mit dem Vorrücken der Roten Armee und der westalliierten Truppen erfolgt die Befreiung der überlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen. Die meisten von ihnen äußern den Wunsch, in ihre Heimat zurückzukehren, aber dafür müssen sie sich einer Überprüfung in sogenannten Filtrationslagern unterziehen. Diese umfasst nicht nur eine Überprüfung der Rotarmitst:innen auf vermeintliche Zusammenarbeit mit den Deutschen während der Gefangenschaft. Zudem müssen die Befragten nachweisen, dass sie sich nicht widerstandslos gefangen gegeben haben. Dazu sind Aussagen mehrerer Zeugen erforderlich. Viele ehemalige sowjetische Kriegsgefangene kommen, anstatt zu ihren Verwandten zurückzukehren, wieder in Lager, diesmal in das sowjetische Gulag-System. Nach Angaben aus russischen Archiven kehren 1.836.562 ehemalige sowjetische Kriegsgefangene in die UdSSR zurück, es ist jedoch nicht möglich, diese Zahlen zuverlässig zu prüfen. Russische Historiker gehen davon aus, dass die meisten Gefangenen in Militäreinheiten geschickt werden, um ihren Dienst fortzusetzen.  

Sowjetische Kriegsgefangene bilden eine der größten Opfergruppen des nationalsozialistischen Deutschlands, dennoch spielte ihr Schicksal bis vor wenigen Jahren weder in Deutschland noch in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion eine bedeutende Rolle in der Erinnerungskultur. Die Tatsache, in deutscher Kriegsgefangenschaft gewesen zu sein, gilt in der Sowjetunion lange Zeit als ein Schandfleck. Bis Ende der 1980er Jahre ist dies in allen Personalfragebögen anzugeben, sogar von Familienmitgliedern des ehemaligen Gefangenen. Ehemalige Kriegsgefangene erhalten lange keinerlei Entschädigungen. Einige Nichtregierungsorganisationen unterstützen sie auf eigene Initiative mit Spenden, zum Beispiel „Kontakte – Kontakte e.V.“. Erst im Jahr 2015 beschließt der Deutsche Bundestag an die überlebenden ehemaligen kriegsgefangenen Soldaten und Offiziere der Roten Armee rund 10.000.000 Euro (bei insgesamt ca. 4.000 Menschen je 2.500 Euro pro Person) auszuzahlen, wenn sie persönlich einen Antrag stellen.