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Sowjetische Kriegsgefangene in einem Lager bei Gshatsk, Gebiet Smolensk, Dezember 1941, Fotograf: Albert Dieckmann, Museum Berlin-Karlshorst.

Sowjetische Kriegsgefangene waren Soldaten und Offiziere der Roten Armee, die während des Zweiten Weltkriegs von deutschen Truppen gefangen genommen wurden. Ihre Behandlung in deutscher Gefangenschaft war besonders grausam und unmenschlich. Die Ernährungsnormen und Unterbringungsbedingungen für sie waren schlechter als für Kriegsgefangene aus anderen Staaten. Dabei spielte auch die nationalsozialistische Ideologie eine Rolle, also Antisemitismus, Rassismus, Antislawismus und Antikommunismus. Auf deutscher Seite bestimmte die Vorstellung, dass diese Gefangenen nicht als vollwertige Menschen betrachtet werden sollten, das Verhalten zu ihnen und ihren Gewahrsamsbedingungen. Die internationale Rechtsgrundlage für die Behandlung der Kriegsgefangenen waren das Haager Abkommen von 1907 und das Genfer Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen von 1929. Deutschland unterzeichnete beide Dokumente, setzte Ihre Anwendung in Bezug auf sowjetische Kriegsgefangene jedoch bewusst aus.

Die genaue Zahl der sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Gefangenschaft ist immer noch Gegenstand von wissenschaftlichen Diskussionen. Als Gesamtzahl wird häufig die Zahl 5,7 Millionen genannt. Die Sterblichkeit unter den sowjetischen Kriegsgefangenen war sehr hoch: bis zu 3,3 Millionen Menschen kamen um, also mehr als 50%. Bei britischen und amerikanischen Truppen in deutscher Gefangenschaft lag sie bei etwa 3%, bei französischen bei 2,8%, bei polnischen bei 2–4% und bei italienischen bei 6–7%. Die überwiegende Mehrheit der Soldaten und Offiziere der Roten Armee geriet in den Jahren 1941–1943 in Gefangenschaft. Die hohe Todeszahl resultierte aus den unmenschlichen Bedingungen bei Transporten und in den Lagern. Erschöpft Zurückbleibende wurden erschossen, im Winter erfroren viele in offenen Waggons. In den Lagern fehlten anfangs einfachste Unterkünfte, Hygiene und Versorgung waren völlig unzureichend. Bestimmte Gruppen unter den Gefangenen wurden gezielt ermordet. Die politischen Funktionäre der Roten Armee (Politkommissare und Politruks) wurden bis Mai 1942 auf der Grundlage des sogenannten „Kommissarbefehls“ des Oberkommandos der Wehrmacht vom 6. Juni 1941 erschossen. Das gleiche Schicksal erlitten jüdische Rotarmisten. Mitunter wurden auch weibliche Armeeangehörige ermordet oder an Konzentrationslager, wie z.B. Ravensbrück, überstellt. Es kam vereinzelt auch zu Morden an muslimischen Rotarmisten oder an Gefangenen aus den zentralasiatischen Republiken der Sowjetunion. Sowjetische Kriegsgefangene wurden auch Opfer von medizinischen Experimenten.

Die nichtbeachteten völkerrechtlichen Standards wirkten auf das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen vom Beginn der Gefangenschaft bis zu ihrem Tod oder ihrer Befreiung ein. Zuerst kamen sie in provisorische Lager bei Divisionen, die über keinerlei Ausstattung verfügten und marschierten über Armee-Gefangenen-Sammelstellen in kräftezehrenden Fußmärschen zu Durchgangslagern (Dulags). Hier erfolgte eine weitere Aufteilung: Die Offiziere wurden in Offizierslager (Oflag), Soldaten und Unteroffiziere in Stammlager (Stalag) geschickt. Jedes Lager hatte seine eigene Nummerierung oder Abkürzung. Außer großen Lagern gab es viele kleine in der Nähe von Betrieben, in denen Kriegsgefangene arbeiteten, wo einige hundert Menschen untergebracht werden konnten. Solche Arbeitslager oder „Arbeitskommandos“ waren seit 1942 besonders verbreitet, als die Arbeit der Kriegsgefangenen in Industrie und Landwirtschaft in Deutschland verstärkt genutzt wurde. Kontakte zur deutschen Zivilbevölkerung wurden unterbunden, Hilfsstellungen an Kriegsgefangene waren verboten und wurden gesetzlich bestraft. Jeder Gefangene erhielt seine persönliche Lagernummer, die zumeist auf einer Metallmarke stand. Diese musste um den Hals getragen werden.

Das nationalsozialistische Regime versuchte, sowjetische Kriegsgefangene verschiedener Nationalitäten zu spalten und sie dazu zu bringen, gegen die Sowjetunion zu arbeiten. Manche sowjetischen Kriegsgefangenen gingen darauf ein, um zu Überleben oder aus politischen Gründen. Nach 1943 häuften sich die Fälle von Flucht aus den Lagern, Sabotage bei der Arbeit und anderen Widerstandsaktivitäten. Im Falle der Entdeckung folgte unmittelbar eine schwere Strafe bis hin zur Erschießung.

Trotz der unerträglichen Bedingungen in deutscher Gefangenschaft betrachteten Stalin und die Führung der UdSSR die Gefangenschaft der Rotarmisten als Verrat. Begleitumstände, wie Verletzungen, Einkesselung usw., spielten bei dieser Bewertung praktisch keine Rolle. Der Befehl Nr. 270 des Hauptquartiers des sowjetischen Oberkommandos vom 16. August 1941 verlangte von den Rotarmisten, „aufopferungsvoll bis zur letzten Möglichkeit zu kämpfen“ und „widerstandslose Gefangengaben“, wenn nötig mit Gewalt, zu verhindern. Im Falle einer solchen Gefangengabe wurde die Verantwortung auch auf die Familien übertragen, dies betraf insbesondere Familien von Offizieren und politischen Funktionären. Ihnen wurden staatliche Unterstützung und Hilfen entzogen, ihre Frauen und Kinder kamen als „Familienmitglieder eines Vaterlandverräters“ in Gefängnisse und Lager.

Mit dem Vorrücken der Roten Armee und der westalliierten Truppen erfolgte die Befreiung der überlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen. Die meisten von ihnen äußerten den Wunsch, in ihre Heimat zurückzukehren, aber dafür mussten sie sich einer Überprüfung in sogenannten Filtrationslagern unterziehen. Diese umfasste nicht nur eine Überprüfung der Rotarmitst:innen auf vermeintliche Zusammenarbeit mit den Deutschen während der Gefangenschaft. Zudem müssen die Befragten nachweisen, dass sie sich nicht widerstandslos gefangen gegeben haben. Dazu waren Aussagen mehrerer Zeugen erforderlich. Viele ehemalige sowjetische Kriegsgefangene kamen, anstatt zu ihren Verwandten zurückzukehren, wieder in Lager, diesmal in das sowjetische Gulag-System. Nach Angaben aus russischen Archiven kehrten 1.836.562 ehemalige sowjetische Kriegsgefangene in die UdSSR zurück, es ist jedoch nicht möglich, diese Zahlen zuverlässig zu prüfen. Russische Historiker:innen gehen davon aus, dass die meisten Gefangenen in Militäreinheiten geschickt wurden, um ihren Dienst fortzusetzen.

Sowjetische Kriegsgefangene bilden eine der größten Opfergruppen des nationalsozialistischen Deutschlands, dennoch spielte ihr Schicksal bis vor wenigen Jahren weder in Deutschland noch in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion eine bedeutende Rolle in der Erinnerungskultur. Die Tatsache, in deutscher Kriegsgefangenschaft gewesen zu sein, galt in der Sowjetunion lange Zeit als ein Schandfleck. Bis Ende der 1980er Jahre war dies in allen Personalfragebögen anzugeben, sogar von Familienmitgliedern des ehemaligen Gefangenen. Ehemalige Kriegsgefangene erhielten lange keinerlei Entschädigungen. Einige Nichtregierungsorganisationen unterstützen sie auf eigene Initiative mit Spenden, zum Beispiel „Kontakte – Kontakte e.V.“. Erst im Jahr 2015 beschloss der Deutsche Bundestag an die überlebenden ehemaligen kriegsgefangenen Soldaten und Offiziere der Roten Armee rund 10.000.000 Euro (bei insgesamt ca. 4.000 Menschen je 2.500 Euro pro Person) auszuzahlen, wenn sie persönlich einen Antrag stellten.

Verfasserin: Tatiana Timofeeva

Quellen- und Literatur

Blank, Margot und Babette Quinkert (Hg.): “Dimensionen eines Verbrechens. Sowjetische Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg”. Katalog zur Sonderausstellung anlässlich des 80. Jahrestages des Überfalls auf die Sowjetunion, Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst, 18. Juni – 3. Oktober 2021, Berlin: Metropol Verlag, 2021.

Keller, Rolf: Sowjetische Kriegsgefangene im Deutschen Reich 1941/42. Göttingen: Wallstein, 2011.

Kontakte-Kontakty e.V. (Hrsg.) Ich werde es nie vergessen. Briefe sowjetischer Kriegsgefangener 2004—2006, Berlin: Ch. Links, 2007.

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Сквозь две войны, сквозь два архипелага…: Воспоминания советских военнопленных и остовцев / Сост.: П. М. Полян, Н. Л. Поболь. — М.: Российская политическая энциклопедия, 2007.