„Da gab es nette Menschen. Ein guter Mensch trifft überall auf gute Menschen. Ich habe niemanden etwas Schlechtes getan, für mich sind alle Menschen gut. Alle Menschen sind gut, schlechte gibt’s für mich nicht.“
Tatjana Strigun, NS-Dokumentationszentrum München, 2017.
Tatjana Wassiljewna Strigun (1926)* war eine sowjetische Zwangsarbeiterin.
Tatjana Wassiljewna Strigun wurde im Dorf Ewmynka (Gebiet Tschernihiw, Ukraine) in einer Bauernfamilie geboren. Außer ihr gab es in der Familie vier weitere Kinder. Ihre Mutter verstarb früh. In ihrem Interview erinnerte sich Tatjana an die schwierigen Lebensbedingungen in ihrer Kindheit:
„Und meine Mutter verstarb, ich war sieben … Ich war in der dritten Klasse, als Mama starb. Und mein Vater hat nicht erneut geheiratet. Er hat nicht geheiratet, und wir arbeiteten nicht mehr in der Kolchose, sondern hüteten Kühe. Mein Vater, meine stumme Schwester und ich. Das war gut… Wir bekamen 16 Kilo Roggen und 32 Kilo Kartoffeln im Jahr. Wir setzten uns zum Essen. Oder zu den religiösen Feiertagen… Das war so gut. Wir hatten so einen alten Mann, wenn ich eine Kuh trieb, brachte er mir einen Pfannkuchen mit zwei Speckstreifen raus. Und auf der Kuhweide gab es einen Kessel, in dem wir Mittagessen machten: gebratenen Speck oder Suppe oder etwas anderes, erst abends waren wir zu Hause.“
Von jungen Jahren an arbeitete Tatjana in einer Kolchose. Sie hütete Kühe und half bei der Ernte. Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 wurden zwei ihrer Brüder in die Rote Armee eingezogen; bald darauf geriet einer von ihnen in deutsche Kriegsgefangenschaft.
1943 wurde Tatjana zusammen mit ihrem Vater und ihrer Schwester zur Zwangsarbeit nach Deutschland gebracht. Sie kamen in das Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) in Freimann (heute ein Stadtteil von München). Die Zwangsarbeiter:innen lebten im Lager Eggarten, zwei Kilometer vom RAW entfernt, und wurden mit einem Sonderzug zur Arbeit gebracht. Unterwegs bewachten zwei Polizisten die Arbeiter:innen. Laut Tatjanas Erinnerungen war einer „sehr nett“ und der andere „frech“, aber im Interview-Gespräch erwähnte sie, dass sie niemanden böse ist:
"Da gab es nette Menschen. Ein guter Mensch trifft überall auf gute Menschen. Ich habe niemanden etwas Schlechtes getan, für mich sind alle Menschen gut. Alle Menschen sind gut, schlechte gibt’s für mich nicht. [...] Und die Schönheit ringsherum, mein Gott. Auf dieser Allee… dieses Obst. Geschickt. Bei uns wuchs sowas nicht... Deutschland ist schön!"
Tatjana beschrieb den Lageralltag:
„Im Zimmer lebten 13 Menschen. Man durfte auf keinen Fall eine Mütze tragen, die Mütze musste vom Kopf, sobald man das Gebäude betrat. Mütze ab, wenn du eintrittst. Diese ausschließlich gute Kultur. […] Wir aßen Rübe und liefen in Holzschuhen, in solchen aus Holz. ‚Hopp, zu dritt, hopp, zu dritt! Aufgereiht, lauft in Reihen!‘ so führte uns die Polizei. Einer zählte uns ab: ‚Drei, drei, drei, drei. Los‘. So gingen alle an ihre Arbeitsplätze. Und auf dem Rückweg wurden wir auch abgezählt; er zählte immer wieder und überprüfte erneut: ‚Geht zum Zug, wir fahren los.‘“
In Freimann wurde Tatjana zur Drahtwicklerin ausgebildet und arbeitete in der Elektroabteilung. Ihr zufolge hatten die Zwangsarbeiter:innen sehr viel Angst, fehlerhafte Teile zu produzieren. Aufseher bestraften die Zwangsarbeiter:innen für fehlerhafte Produktion. Der Arbeitstag dauerte von neun Uhr morgens bis fünf Uhr abends, die Bezahlung und die ausgegebenen Essensrationen waren unzureichend. Deshalb waren die Zwangsarbeiter:innen dauerhaft auf der Suche nach weiteren Lebensmittelquellen. Tatjanas Vater säuberte in der Werkstatt Teile von Dampflokomotiven. Tatjanas Schwester, die von Kindheit an stumm war, wurde in der Lagerküche eingeteilt, wo sie Kartoffeln schälte und Geschirr spülte. Manchmal gelang es ihr, Tatjana und ihren Vater heimlich mit Brotstücken aus der Küche zu versorgen. In ihrer Freizeit durften die Arbeiter:innen in einen Laden zum Einkaufen gehen. Dabei mussten sie jedoch einen Aufnäher mit der Aufschrift „OST“ auf dem Ärmel tragen.
Manchmal baten deutsche Bauern Zwangsarbeiter:innen um Hilfe bei der Feldarbeit, und gaben ihnen im Gegenzug Brot.
"Als wir dort im Lager lebten, kamen deutsche Frauen und baten um Hilfe beim Unkrautjäten. Ich war bereit, eine andere willigte auch ein... Also jäteten wir gemeinsam das Unkraut... Sie waren so zufrieden. Deshalb gaben sie uns viele Brötchen und alles andere. Nun, dort durfte man nicht stehlen, Gott bewahre. Gott bewahre! Man konnte es sich ehrlich erbetteln, man ging nie leer aus. Immer gaben sie einem etwas."
Obwohl Tatjana nur wenig Deutsch sprach, pflegte sie in Deutschland eine freundschaftliche Beziehung zu einer jungen Deutschen namens Greta:
„Und ich fragte sie: ‚Greta, warum kamst du zu mir und arbeitest mit mir?‘ und sie sagte, es gebe so ein Gesetz: die Jüngsten…, wenn es ein Sohn ist, bleibt er zu Hause und führt den Haushalt und wenn es eine Tochter ist, dann geh mit Gott, wohin du willst. So kam sie in das Werk arbeitete mit mir, diese Greta. Sie war so… Sie gab mir mal ein Kleid. Oh, sie war so ein geschickter Mensch. […] Wir plauderten mit einander über nichts: ‚Guten Morgen, guten Abend.‘“
Nach dem Krieg verlor Tatjana den Kontakt zu Greta. Sie erzählte, dass viele ehemalige Zwangsarbeiter:innen sich über die sowjetische Fernsehsendung „Warte auf mich“ gesucht hätten. So wünschte sie sich auch Greta zu finden, aber sie wäre viel älter, und vermutlich nicht mehr am Leben.
Das Lager in Freimann wurde am 5. Mai 1945 befreit* (*laut Erinnerungen von Nikolaj Wlasenko, eines anderen Zwangsarbeiters in Freimann).
„Die Amerikaner befreiten uns. Mein Gott, wie… Ja, wir freuten uns, oh!.. Gegenseitig haben wir… O Gott… Barmherziger Herr, dein Wille geschehe. Der Herr ließ es zu, die Amerikaner befreiten uns, wir freuten uns.“
Über das Leben von Tatjana nach der Befreiung ist wenig bekannt. Sie, ihr Vater und ihre Schwester beschlossen, nach Hause in ihr Heimatdorf zurückzukehren:
"Einige blieben dort. Wer wollte, der blieb. Die Amerikaner sagten: ‚Bleibt‘. Dort gab es solche Vorratslager, oh... aber ich wollte nicht. Uns war so, dass wir nach Hause wollten."
Nach ihrer Rückkehr durfte sie in der Kolchose nicht mehr Kühe hüten. Diejenigen, die während des Krieges nach Deutschland deportiert wurden, galten als „unwürdig“. Nach der Rückkehr aus Deutschland verbrachte Tatjana das ganze Leben in Ewmynka, wo sie als Putzkraft arbeitete.
„Anfangs war es schwer, es gab ja nichts. Dann wurde es immer besser. Ich arbeitete 34 Jahre lang als Putzkraft, mein ganzes Leben. Das macht nichts… Es ist gut, gut. Danken Sie Gott. Uns sehen Sie, früher trug niemand ein Kreuz am Hals, aber dann, nachdem Deutschland… hängten sich alle ein Kreuz um den Hals und tragen es seitdem.“
*Zu Tatjana besteht seit 2021 kein Kontakt mehr.
Autorin: Alöna Todorova
Quelle: Videointerview mit Tatjana Strigun, 2017, bereitgestellt vom NS-Dokumentationszentrum München.