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„Dies ist es, was mich beschäftigt, und die Schuldner werden immer Schuldner sein.“

Walerij Galilejew, Fotograf  unbekannt, Archiv der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora.

Walerij Wasiljewitsch Galilejew (1925–2013) war ein sowjetischer Zwangsarbeiter und Konzentrationslager-Gefangener.

 

Walerij wurde 1925 in der Stadt Rossosch (Russland) in einer Lehrerfamilie geboren. Die Familie zog bald in die Stadt Schachty (Russland), wo Walerij ab 1933 die Schule besuchte. Sein Vater wurde Ende der 1930er Jahre aus politischen Gründen verhaftet und starb 1943 im Gulag.

Deutsche Truppen besetzten Schachty im Juli 1942. Walerij wurde zur Zwangsarbeit in ein Werk in Allendorf (Hessen) deportiert. Im Februar 1943 wurde er von der Gestapo verhaftet, weil ihm Kartoffeldiebstahl, Arbeitssimulation und ein Fluchtversuch vorgeworfen wurden. Er wurde in ein Gefängnis der Stadt Kassel (Hessen) gebracht. Bald darauf wurde Walerij wurde ins Konzentrationslager Buchenwald (Thüringen) geschickt und dort als politischer Häftling registriert.

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Galilejew in seiner Jugend. Fotograf unbekannt. Archiv der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora.

In Buchenwald verbrachte er etwa ein halbes Jahr. Walerij gehörte den ersten Gefangenengruppen an, die im September 1943 in das gerade erst gegründete Außenlager Dora (Thüringen) in der Nähe der Stollen des Kohnsteiner Berges verlegt wurden. In einem Nachkriegsfragebogen, den er Ende der 1990er Jahre für die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora ausfüllte, kann man eine Beschreibung der Lagerbedingungen von Walerij finden:

Das Bild ist lange bekannt: Der Bauch des Kohnsteiner Berges. Die SS treibt den Bau von Stollen und Tunneln für ein Rüstungswerk in einem wahnsinnigen Tempo voran. Es gibt noch kein Lager. Im Halbdunkel, Feuchtigkeit und Staub, wurde rund um die Uhr, unter dem ständigen Krach von Explosionen, Gestein verladen. Überall liegen Leichen der Häftlinge. Kurze Ruhezeiten auf den vierstöckigen Betten, die direkt im Stollen installiert sind. In der Nähe dröhnen Explosionen. Eines Tages, als ich Steine in die Loren lud, wurde mir befohlen, eine Leiter zu tragen und beim Aufhängen von Kabeln an den Stollenwänden für vorübergehende Beleuchtung zu helfen.

 

Laut Auskünften, die Walerij in 1996 Jahren der Gedenkstätte gab, schrieb er in der Nachkriegszeit mehrmals an die deutsche Firma, bei der er zur Zwangsarbeit eingesetzt worden war und forderte eine Entschädigung. Seine Briefe blieben unbeantwortet. In seinen Erinnerungen drückte er sein Unbehagen darüber aus:

"Diese Frage darf nicht vergessen werden, sie wird immer aktueller. Dies ist es, was mich beschäftigt, und die Schuldner werden immer Schuldner sein. Sie müssen endlich begreifen und sich vollständig mit ihren Kriegsgefangenen und Todessträflingen auseinandersetzen. In diesem Fall muss die faire Abrechnung nicht von der Bundesregierung durchgeführt werden, sondern von der konkreten Firma B., die Gewinn aus der Ausbeutung der Gefangenen erzielte."

In einem anderen Fragebogen aus dem Jahr 1984 versuchte Walerij einen versöhnlichen Ton der „Völkerfreundschaft“ anzuschlagen:

Einmal, als wir auf dem Appellplatz in Blockreihen zur abendlichen Abzählung standen, kam ein SS-Mann mit einem tschechischen Elektriker aus dem Lager auf unseren Block zu. Der Tscheche bat um Hilfe für ihr Kommando. Es stellte sich heraus, dass im SS-Kasino vor Einbruch der Dunkelheit das Licht ausging, während die Faschisten gerade betrunken feierten. Meine Kameraden sagten: „Geh du, Russe.“ Ich nahm vom Tschechen die Steigeisen und der SS-Mann führte mich aus dem Lager zum Kasino. Es dämmerte. Direkt neben dem Eingang stand ein Pfosten, der mit einem Geflecht aus blau-grünen Kommunikationskabeln umwickelt war, darüber verliefen Hochspannungskabel. Meine Schuhe waren wie Hauspantoffeln, mit einer Holzsohle und einer Stoffkappe vorne. Ich kletterte mit den Steigeisen hoch. Ich bemerkte, dass es funkte. Das Licht im Kasino flackerte auf und ging dann aus. Betrunkene SS-Männer kamen heraus, drohten mit Pistolen und schrien. Ich zog das Kabel aus der Klemme und drehte es wieder fest. Das Licht ging wieder an. Es war komplett dunkel. Später bedankten sich die Tschechen bei mir und gaben mir sogar Tabak und Brot.
Aber ich war den Tschechen dankbar. Drei Mal haben tschechische Ärzte im Krankenrevier von Buchenwald mein Leben gerettet. Die internationale Freundschaft der Gefangenen war stärker als der Terror der SS.

 

Im April 1945 näherten sich amerikanische Truppen dem Konzentrationslager  Mittelbau-Dora. Ein Großteil der Gefangenen, darunter auch Galilejew, wurde in das Lager Bergen-Belsen (Niedersachsen) verlegt, das bald darauf von den britischen Truppen befreit wurde. Danach kamen Mitarbeiter des SMERSH und transportierten sowjetische Häftlinge in die sowjetische Besatzungszone. Vielen wurde angeboten, sich den sowjetischen Besatzungstruppen anzuschließen. Walerij stimmte zu. In der Roten Armee war er zuerst Koch und erlernte dann den Beruf des Fahrers. Im Jahr 1950 wurde er wegen Lungentuberkulose ausgemustert.

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Galilejew bei Treffen ehemaliger Gefangener in den 1980er Jahren, Fotograf unbekannt, Archiv der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora.

Walerij fuhr nach Rostow am Don (Russland) und schloss an einer Filmfachschule seine Ausbildung zum Filmmechaniker ab. Danach arbeitete er im Dorf Dubrowka (Region Rostow, Russland) an einem mobilen Kino, das zur Vorführung von Filmen diente. Dort lernte er Ekaterina kennen, die er 1951 heiratete. Später zog er nach Gelendshik (Russland) und fand Arbeit im Tuberkulosesanatorium „Golubaja Buchta“, wo er bis zu seiner Rente arbeitete.

Galilejew verspürte das Bedürfnis, seine Erfahrungen zu teilen und zu verstehen, was mit ihm geschehen war. Er las Bücher über die Geschichte von Buchenwald, sofern sie unter den Bedingungen der sowjetischen Zensur verfügbar waren, nahm an Schulveranstaltungen teil, bei denen er Kindern von seinen Erfahrungen im Lager erzählte. Mittelbau-Dora, wo er die meiste Zeit seiner Gefangenschaft verbracht hatte, war im Gegensatz zu Buchenwald lange Zeit kein Thema für öffentliche Diskussionen in der Sowjetunion. Seit Anfang der 1980er Jahre, als sich die internationale Lage änderte, konnten einzelne Themen in der sowjetischen Presse diskutiert werden. In dieser Zeit schrieben Mitarbeiter der Gedenkstätte Briefe an ehemalige Häftlinge mit der Bitte, Fragen zu beantworten. Einen solchen Fragebogen bekam auch Walerij. Zu diesem Zeitpunkt gab es in der Sowjetunion keine öffentlich verfügbaren Informationen über Mittelbau-Dora, weshalb Walerij den Gedenkstätten-Mitarbeitern wiederum für ihn wichtige Fragen stellte. Sie betrafen Dinge, an die er sich nicht erinnern konnte, und die er als Gefangener nicht wissen konnte. Er wusste vieles nicht, denn die Gefangenen hatten keine Uhren, Kalender und Karten, und ihr körperlicher und seelischer Zustand machte es oft unmöglich, sich für etwas anderes als Essen und Erholung zu interessieren. Manchmal verfielen die Häftlinge in einen beinahe bewusstlosen Zustand. Hier sind diese Fragen, die er 40 Jahre später stellte:

1. Wann wurden wir etwa aus dem Stollen an die Oberfläche gebracht? Wie lange lebten wir im Berg?
2. An welchem Tag und in welchem Monat kam ich in den Transport von Mittelbau nach Bergen-Belsen? Wann kamen wir von dort an? Wie viele Tage bekamen wir kein Essen?
3. Wo befindet sich Bergen-Belsen und was ist das für ein Ort? In welcher Besatzungszone liegt es?
4. Wie kann man Dora besuchen?

 

Die Situation änderte sich nach dem Zerfall der Sowjetunion. Walerij beteiligte sich aktiv an der Korrespondenz mit den Mitarbeiter:innen der neu eingerichteten KZ-Gedenkstätte. Er organisierte Treffen ehemaliger Häftlinge in Russland und der Ukraine, veröffentlichte Berichte in der Lokalpresse und gab seine Erinnerungen weiter.

Walerij Galilejew starb im April 2013 in Nordhausen. Dies geschah während der Gedenkveranstaltungen zur Befreiung des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora.

Before
After
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Autor: Ivan Schemanov
Quellen: Erinnerungen und Dokumente von Walerij Galilejew im Archiv der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora.