„Nichtgehen konnten wir nicht, weil sie bekanntgaben, dass sie unsere Eltern fortbringen würden, wenn wir nicht kämen.“
Nadeschda Sujewa beim Interview im März 1998, Standbild aus dem Video-Interview, Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.
Nadeschda Aleksejewna Sujewa (geb. 1927)* war eine sowjetische Zwangsarbeiterin und Konzentrationslager-Gefangene.
Nadeschda Sujewa wurde am 30. September 1927 in Mykolajiw (Ukraine) geboren. Vor Beginn des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion ging sie zur Schule. Während der deutschen Besatzung der Ukraine war Nadeschda zunächst beim Arbeitsamt gemeldet, das von der Besatzungsverwaltung betrieben wurde und arbeitete dann in einem deutschen Lazarett.
1943 begannen in Mykolajiw gewaltsame Transporte junger Menschen, die im Jahr 1927 geboren waren, zur Zwangsarbeit nach Deutschland. Die jungen Menschen sollten sich nahe einer Schnapsfabrik versammeln. Nadeschda beschreibt die Gründe, warum sie zum Sammelpunkt ging:
„Nichtgehen konnten wir nicht, weil bekanntgegeben wurde, dass sie unsere Eltern fortbringen würden, wenn wir nicht kämen. Natürlich opferten wir uns, die Eltern taten uns leid, sie sollten nicht nach Deutschland verschleppt wurden. Und so kamen wir in diese Fabrik, wurden dort überprüft und am zweiten Tag wurden wir in den Zug geladen und nach Deutschland transportiert.“
Nadeschda und ihre Bekannten wurden in Güterwaggons nach Deutschland gebracht. In Przemyśl (Polen) mussten sie sich einer wiederholten medizinischen Untersuchung unterziehen, bei der sie ausgezogen und auf Krankheiten überprüft wurden. Wenn eine Person krank war, wurde sie zurück in die Ukraine geschickt, die Gesunden wurden weitertransportiert. Bei der Ankunft in Deutschland warteten Zwangsarbeiter:innen auf die Verteilung:
"Ich kam in Erfurt an. Es war ein Verteilungslager, wohin „Käufer“ kamen, so nannten wir sie. All diese jungen Männer und Frauen, die nach Deutschland kamen, wurden dort dann in die Fabriken mitgenommen. Und jeder, der kam, achtete auf die Gesundheit, das Äußere, ob ihm jemand gefiel, und die Besitzer nahmen sie mit zu den Werken und Fabriken und in die Landwirtschaftsbetriebe. Und es kam so, dass absolut alle mitgenommen wurden und ich allein blieb. So. Dann brachte mich eine Deutsche in die Stadt, in irgendein Gebäude, ich weiß, dass meine Herrin mich abends abholte."
Nadeschda Sujewa erinnert sich, wie sie von deutschen Wachen Kuchen und Limonade bekam.
Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme
Nadeschda kam in die Familie eines deutschen Offiziers. Nach ihren Erinnerungen wurde sie im Vergleich zu anderen Zwangsarbeiter:innen gut behandelt:
„Ich war bei ihr, sie selbst war mit einem Offizier verheiratet, einem deutschen Major. Sie hatte eine Familie: vier Kinder, drei Jungen, der Älteste war sieben und ein kleines Mädchen, acht Monate alt. Die anderen waren sechs, vier und drei Jahre alt, das waren ihre Kinder. Ich arbeitete bei ihr. Sie behandelte mich sehr gut, ich habe normal gegessen. Ich hatte auch solche Freundinnen, ich traf sie sonntags zum Spazieren und sie erzählten über die Herren, bei denen sie arbeiteten, dass sie ihnen wenig gaben. Sie waren hungrig, ihnen wurde wenig zu essen gegeben. Nehmen wir an, zum Mittagessen, schneidet sie [die deutsche Hausherrin] Brot ab, gibt es ihr [der Zwangsarbeiterin], und das andere Stück markiert sie [die Hausherrin], damit sie dieses Brot nicht mehr essen, sich selbst abschneiden kann. Und bei mir war es das Gegenteil, ich nahm so viel zu essen, wie ich wollte. Sie [die deutsche Hausherrin] erlaubte es mir und sie behandelte mich ziemlich gut.“
In der Offiziersfamilie hörte Nadeschda heimlich Radio, erfuhr daraus die Lage an der Front und berichtete davon in Briefen an ihre Freunde. Einer ihrer Freunde, der auch Radio hörte und die Informationen mit seinen Bekannten teilte, wurde verhaftet. Später wurde auch Nadeschda verhaftet, ihre Briefe weckten das Interesse der Geheimpolizei. Sie kam zunächst in ein Berliner Gefängnis, später kurz ins Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück (Brandenburg). Nadeschda beschreibt die Lebensbedingungen im Lager:
„Und sie führten uns nach Ravensbrück hinein, dort wuschen sie uns, manchen schnitten sie die Haare, manchen nicht. Sie zogen uns um und trieben uns in einen Block, eine Baracke. In dieser Baracke gab es… Es gab dreistöckige Baracken [Betten], es waren sehr eng, und wir schliefen so seitlich, eine neben der anderen. Es war so eng, dass, wenn du dich umdrehen wolltest, weil die eine Seite schmerzte, sich alle auf die andere Seite umdrehen mussten. Sie gaben uns dort nur einmal am Tag Essen: gekochte Kartoffeln, diese Kartoffeln waren so klein. Gekocht. Das wurde uns gegeben: Diese Kartoffeln und Schluss.“
Nadeschda Sujewa erzählt über Fluchtversuche von anderen Gefangenen.
Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.
Nadeschda Sujewa über das Hinausjagen auf den Appellplatz.
Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.
Aus Ravensbrück wurde Nadeschda nach Salzgitter (Niedersachsen) überführt, wo sie in einer Militärfabrik arbeitete, und von dort ins Konzentrationslager Neuengamme (Hamburg).
Nadeschda Sujewa erinnert sich an den Arbeitsalltag.
Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.
Nadeschda Sujewa über Sabotage bei der Herstellung von Patronen.
Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.
Im März 1945 begannen die Evakuierungen, die Nadeschda und andere Gefangene betrafen. Die Waggons, in denen sie transportiert wurden, wurden von alliierten Truppen massiv beschossen; Viele Gefangene konnten fliehen. Der Rest, darunter auch Nadeschda, gingen unter Bewachung zwei Tage zu Fuß zum Konzentrationslager Bergen-Belsen (Niedersachsen). Im Lager erkrankte Nadeschda an Typhus und konnte nicht selbstständig essen und sich bewegen. Die Nachricht von der Lagerbefreiung half ihr nicht. Nadeschda erinnert sich, dass nur die Hilfe und Fürsorge ihrer Freundin Anna ihr nach all den Herausforderungen half, wieder Kraft zu fassen:
Nadeschda Sujewa über Empathie im Lager.
Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.
"Und nachdem ich, als ich schon krank war und als die Freiheit wirklich gekommen war, sagten sie, wir seien frei. Das ließ mich jedoch gleichgültig. Ich wollte nicht essen. Mir war es absolut einerlei, ob ich frei war oder nicht. Ich war im Zustand, dass ich fast nicht mehr gehen konnte. Aber ich hatte diese Freundin aus Berlin, Anna aus Donezk, die mir auf jede erdenkliche Weise helfen wollte. Und ich sagte es immer, und zu meiner Familie zu Hause sage ich, dass ich nur dank dieser Frau überlebte... Sie brachte mir irgendetwas zu essen. Sie fütterte mich mit einem Löffelchen, weil ich selbst nicht mehr essen konnte. Und so lebte ich eine Weile. Dann kam sie wieder und sagte, dass sie irgendwo bei den Kriegsgefangenen arbeite, für sie Essen kocht. Sie ging, um für Kriegsgefangene zu kochen, dann kam sie wieder zu mir ins Konzentrationslager. Wenn sie mich nicht immer besucht hätte, dann würde ich in diesem Zelt liegen und wäre irgendwann gestorben. Aber sie hatte trotz allem eine Art Pflichtgefühl, irgendwie mochte sie mich auch. Weil sie neun Jahre älter war als ich."
Nach der Befreiung des Konzentrationslagers begann Nadeschdas Genesung. Sie wollte nach Hause zurückkehren, musste aber zuvor ein sowjetisches Filtrationslager durchlaufen. Erst im September 1945 konnte sie nach Mykolajiw zurückkehren. Auch nach ihrer Rückkehr in die Ukraine wurde sie ständig von sowjetischen Sicherheitsorganen zu Vernehmungen vorgeladen.
Im Januar 1946 heiratete Nadeschda einen Offizier und nahm den Nachnamen Prokopenko an. Die Militärkarriere blieb ihrem Ehemann verwehrt, laut Nadeschda lag das an ihrer Zeit in Deutschland während des Krieges. Sie brachte einen Sohn und zwei Töchter zur Welt. Sie lebten im Kreis der Tschuktschen (heute autonomer Kreis der Tschuktschen, Russland) im Nordosten der Sowjetunion. Nach der Demobilisierung ihres Mannes kehrten sie zu Mykolajiw zurück.
Interview mit Nadeschda Prokopenko, März 1998.
Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.