Er wickelte ein Stück Stacheldraht ab (es handelte sich dabei um eine klumpenhaft zusammengewickelte Saite), spannte es auf einen Stock mit einer Schweineblase und spielte mit einem Bogen etwas von Mozart.
Michail Lewschenkow, Fotograf unbekannt, nach 2000, © Gedenkstätte Buchenwald.
Michail Wassiljewitsch Lewschenkow (1914–2004) war ein sowjetischer Kriegsgefangener und Konzentrationslager-Gefangener.
Michail wurde im Dorf Saretschje (Region Pskow, Russland) geboren. Nach seinem Schulabschluss 1932, unterrichtete er ab seinem achtzehnten Lebensjahr in der Dorfschule. Er beteiligte sich an der sowjetischen Alphabetisierungskampagne und brachte Erwachsenen im Dorf Lesen und Schreiben bei. 1938 heiratete er, ein Jahr später wurde seine Tochter geboren. Im Februar 1940 trat er in die Rote Armee ein.
Im Juli 1941, kurz nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion, geriet Michail in der Nähe von Minsk (Belarus) in deutsche Kriegsgefangenschaft. Nach mehreren Monaten in Kriegsgefangenenlagern, darunter im Stalag Bela-Podljaska (Polen) und im Stalag 310 Wietzendorf (Niedersachsen), wurde er Mitte Oktober 1941 in das Konzentrationslager Buchenwald (Thüringen) gebracht.
Hier blieb Lewschenkow dreieinhalb Jahre und leistete Schwerstarbeit im Steinbruch, im Tischlereikommando und als Pfleger im Lagerkrankenhaus. Er wurde Mitglied des Widerstandskomitees im Untergrund, wo er eine Untergrundzeitung („Die Wahrheit der Häftlinge“) herausgab und gesellschaftliche Veranstaltungen im Lager organisierte, z. B. Konzerte, Schachturniere und Vorträge. Lewschenkow selbst bezeichnete seine Aufgaben als „Agitation und Propaganda“. Am 10. April 1945 gelang ihm während eines Evakuierungstransports die Flucht. Er schloss sich tschechischen Partisanen an und trat dann in die sowjetische Armee ein.
Michail Lewschenkow mit anderen Rotarmisten, Fotograf unbekannt, 1945, © Gedenkstätte Buchenwald.
Lewschenkows Engagement im Untergrund des Lagers sowie seine Beteiligung an der Organisation von Lagerveranstaltungen machten ihn zu einer prominenten Figur in der Nachkriegshierarchie der Buchenwald-Überlebenden.
Er kehrte in sein Heimatdorf zurück, das von den deutschen Besatzern vollständig zerstört worden war. Beide Brüder waren im Krieg gefallen. Seine Frau war 1942 an Tuberkulose verstorben. Seine Eltern, die Frau seines Bruders und seine Tochter lebten in einer selbstgebauten Erdhütte.
Michail arbeitete wieder als Lehrer und korrespondierte mit Dutzenden ehemaliger Gefangener. Er sammelte ihre Geschichten und sprach in ihrem Namen bei offiziellen Treffen und Kongressen, die in der UdSSR ab 1959 während der „Tauwetter-Periode“ stattfanden.
Michail Lewschenkow (1. v. r.) beim Treffen ehemaliger Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald, Fotograf unbekannt, 1960er Jahre, © Gedenkstätte Buchenwald.
Das Nachkriegsleben der meisten ehemaligen Lagerhäftlinge in der Sowjetunion war sehr schwierig: Für viele von ihnen war die Kriegsgefangenschaft mit der Schande verbunden, ihr Heimatland „verraten“ zu haben. Sie wurden nach der Befreiung in Filtrationslagern überprüft und im schlimmsten Fällen wegen politischer Vergehen in den Gulag geschickt. Lewschenkow selbst, der eine solche Überprüfung nach dem Krieg überstand wurde zu einem der wenigen „offiziellen“ Buchenwald-Veteranen in der Sowjetunion, die öffentlich über diesen Teil ihrer Vergangenheit sprachen.
Aber selbst diese Geschichten waren oft nicht vollständig und unterlagen der Zensur, sowohl der externen als auch der internen. Lewschenkows Briefsammlung, sein Briefwechsel mit verschiedenen Korrespondenten, ist eine Möglichkeit, die Geschichte zu erzählen, die in offiziellen Reden oder Büchern über Buchenwald, die in der UdSSR veröffentlicht wurden, oft unmöglich ist.
Eine solche Beschreibung findet sich in einem Brief von Michail Lewschenkow vom Dezember 1985, in dem er von einem Lagerkonzert berichtet, das er mit seinem Freund Jakow Semjonowitsch Gofman (im Lager als Nikiforow bekannt – es gelang ihm, seine jüdische Herkunft zu verbergen) organisiert hatte. Im Jahr 1985 erhielt Lewschenkow seine Medaille als Kriegsveteran. Der Status der ehemaligen Kriegsgefangenen änderte sich in der Sowjetunion allmählich. Lewschenkow denkt über eine Fortsetzung des Konzerts nach:
"Die Teilnehmer dieses Buchenwald-Konzerts zu versammeln, alle Nummern in tadellosem Zustand zu restaurieren und mit diesem Konzert durch die gesamte Union zu touren, mit meinem einleitenden Vortrag vor jedem Konzert."
Dieses für Buchenwalder Verhältnisse grandiose Konzert umfasste „Vertreter von Häftlingen aus 18 Ländern des zivilisierten Europas“. Der Schwerpunkt – nach Lewschenkows Erinnerungen – lag auf den Darbietungen der sowjetischen Häftlinge, „um unsere Rückständigkeit vor dem Hintergrund der europäischen Kultur zu zeigen“. Im Gegensatz zu den Darbietungen der anderen Häftlinge, die „in traditionellen Theaterkostümen“ auftraten, beschlossen Lewschenkow und Hoffman-Nikiforow, ihre Schauspieler in „den schäbigsten Häftlingsstreifen“ auftreten zu lassen.
Die sowjetische Nummer schloss das Konzert nach mehr als drei Stunden ab. Fast alle Interpreten hatten ein Programm in ihrer eigenen Landessprache vorbereitet, was es den meisten Zuschauern unmöglich machte, den Inhalt zu verstehen. Lewschenkow wollte diesen Ansatz überdenken. Den ersten Auftritt der sowjetischen Gefangenen beschreibt er wie folgt:
„Unter dem Titel ‚Hundeprozess‘ führen wir einen ‚harmlosen‘ Sketch auf, dargeboten von [sowjetischen Häftling] Walentin Jermakowitsch. Als Walentin in unserer Lagerkleidung mit einem Aufnäher auf der Brust [ein Kreis] herauskam und auf Deutsch, Französisch, Tschechisch und Russisch ‚Hundeprozess‘ ankündigte, waren alle gespannt und aufgewacht, (…) Der Saal lebte auf… Und dann rief er [Walentin] in den oben genannten Sprachen: Richter (er imitierte den Richter durch Hundegebell), dann Angeklagter, Zeuge, Verteidiger, Staatsanwalt, das letzte Wort des Angeklagten, Urteilsverkündung, und all das wurde durch verschiedene Töne von Hundegebell imitiert (…). Es gab einen Beifallssturm, den es vor Walentins Auftritt im Saal nicht gegeben hatte. Auch die SS-Männer auf der ersten Bank klatschten.“
Man kann sich sehr unterschiedliche Lesarten und Interpretationen dieser theatralischen Darbietung vorstellen: Sowohl Häftlinge als auch Lagerwächter konnten ihre eigenen, spezifischen Erfahrungen mit dem Prozess verknüpfen. Aber 1985 befand Lewschenkow es für notwendig, seinem Korrespondenten die „Handlung“ gesondert zu erläutern. So klang es für ihn politisch korrekt:
„Der Nachkriegsprozess gegen den Faschismus. Und in diesem Moment saßen unsere Henker zwischen den Angeklagten auf der ersten Bank, aber sie haben unsere Idee offensichtlich nicht verstanden. Aber die Gefangenen, wie wir später erfuhren, haben unsere Idee richtig verstanden.“
Die zweite Nummer erfüllte eine weitere Aufgabe der sowjetischen Aufführung: sie demonstrierte die Zugehörigkeit zur „hohen“ europäischen Kultur.
"Aus dem Hintergrund wird eine Schubkarre von einem Unglücklichen auf die Bühne gefahren, einer lebenden Leiche in Häftlingskleidung, mit dem Dreieck eines politischen Häftlings auf der Brust, darin ein "R", was Russisch bedeutet. Der Gefangene beginnt, den Inhalt der Schubkarre zu zerlegen: Er legt Baumstämme, Pflastersteine, allerlei Gläser, eine Säge mit zwei Griffen, eine Spule Stacheldraht, eine Schweineblase und eine kleine hölzerne Spitzhacke aus (...). Alle Zuschauer strecken sich vor gespannter Erwartung (...). Und auf der Bühne, ereigneten sich derzeit, mit zunehmender Intensität, märchenhafte Wunder: Den Holzstämmen entlockte Jascha [der Gefangene] mit Hilfe der Miniatur-Holzspitzhacke die Melodie eines unter Deutschen beliebten bayerischen Volksliedes; auf den Steinen spielte er einen Pariser Tango nach; und danach spielte er auf allerlei Gläsern, Flaschen und Glocken Auszüge aus klassischen Stücken der berühmtesten europäischen Komponisten. Er wickelte ein Stück Stacheldraht ab (es handelte sich dabei um eine klumpenhaft zusammengewickelte Saite), spannte es auf einen Stock mit einer Schweineblase und spielte mit einem Bogen etwas von Mozart. Hinter der Bühne, kaum hörbar, begleitete Dmitrij Filatow mit Akkordeon Jakows Solodarbietungen (...). Die letzten beiden Nummern, ‚An der schönen blauen Donau‘ und ‚Märchen aus dem Wienerwald‘, spielte Jakow mit Bügel- und Zweihandsäge. Das war ein Triumph. Am Ende seines Auftritts stand der ganze Saal auf und klatschte und grölte minutenlang (...)."
Neben der künstlerischen Revanche besteht Lewschenkow einmal mehr auf einer politischen Lesart seines Plans. Im Lager hatte das Konzert vermutlich andere Funktionen – Lebensmut durch Humor zu vermitteln:
„Erstens, um zu zeigen, dass der russische (sowjetische) Mensch die europäische Kultur (auswendig) kennt (und sie ohne Noten und Musikinstrumente wiedergeben kann). Zweitens, um das Gesicht des sowjetischen Menschen zu zeigen, der ganz Europa um Längen überlegen ist. Drittens, welche Talente in Konzentrationslagern und Gefängnissen des faschistischen Deutschlands vernichtet werden.“
Der dritte und letzte Teil der Aufführung, so Lewschenkow, zeige, „wie das Vaterland seine Gefangenen aufnimmt“.
„Der letzte, dritte [Akt] war der Flug unseres Jungen (eines ehemaligen Zirkusschülers) durch den ganzen Zuschauerraum zur Bühne. Und auf der Bühne stand eine Gruppe unserer Jungen in den Nationaltrachten der Ukraine, Weißrusslands, Moldawiens, Georgiens und so weiter. Die Chormitglieder fingen den Jungen auf, der in ihre Arme flog.“
Die Chormitglieder beendeten ihren Auftritt mit dem sowjetischen Militärlied „Katjuscha“. Dieser Teil sah die Lagerleitung nicht mehr. Die Konzertteilnehmer wurden nicht bestraft. Jedoch gab es nach Lewschenkows Erinnerungen „keine derartigen Großkonzerte mehr im Lager.“
Er schließt selbst seinen Brief von 1985 mit der Bemerkung, dass niemand jemals über diesen Aspekt des Lebens in Buchenwald geschrieben hat oder schreiben wird, und „vielleicht ist es jetzt nicht notwendig“. Die Erinnerungen, Texte, Briefe und Notizen von Lewschenkow und seinen Korrespondenten wurden jedoch von einer Lokalhistorikerin in Noworschewsk (Region Pskow, Russland) aufbewahrt und 2021 im Archiv der Gedenkstätte Buchenwald hinterlegt.
Michail Lewschenkow beim Schreiben seiner Erinnerungen, Fotograf unbekannt, 1970er Jahre, © Gedenkstätte Buchenwald.

Verfasser: Sergey Bondarenko
Quellen:
Sbornik Wospominanij o konzentrazionnom lagere Buchenwald [Sammelband der Erinnerungen an das Konzantrationslager Buchenwald], Erfurt 1945, Archiv der Gedenkstätte Buchenwald.
Privatarchiv von Michail Lewschenkow, aufbewahrt vom Archiv der Gedenkstätte Buchenwald.