„Jeder hatte einen Winkel. Sowohl Russen als auch Franzosen, Niederländer und Belgier...“
Ewgenij Malychin. Foto von 2010. Archiv der Gedenkstätte Neuengamme.
Ewgenij Sacharowitsch Malychin (1924–2021) war ein sowjetischer Zwangsarbeiter und Konzentrationslager-Gefangener.
Ewgenij wurde in Charkiw (Ukraine) geboren und hatte zwei ältere Brüder (Geburtsjahre 1918 und 1921). Sein zweitältester Bruder starb während des Zweiten Weltkriegs als Rotarmist bei Stalingrad (Russland). Sein ältester Bruder arbeitete nach Kriegsende in der Malyschew-Fabrik in Charkiw und lebte zusammen mit Ewgenij. Ihr Vater wurde bereits vor dem Krieg verhaftet und 1938 erschossen.
Vor dem Krieg ging Ewgenij zur Schule konnte sie jedoch nicht abschließen. Während der Besetzung Charkiws schuf die deutsche Verwaltung spezielle Sammelstellen für junge Menschen, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland transportiert wurden. Von einer dieser Sammelstellen wurde Ewgenij im März 1942 nach Deutschland überführt. Er arbeitete in einer Autofabrik in Bremen. Dort baute er Selbstfahrlafetten zusammen, fräste Autoteile, bearbeitete das Fuhrwerk. Er blieb etwa vier Monate an diesem Ort. Dann beschloss er zusammen mit einem Bekannten namens Albert, zu fliehen:
„Wie lief das ab? Wir fuhren für gewöhnlich mit der Straßenbahn zur Arbeit. In der Fabrik gab es viele Arbeiter, wahrscheinlich 1000 oder 2000 Menschen. Ich erinnere mich nicht genau. Es war ein großes Lager. Wir wurden mit der Straßenbahn gefahren. Wir bildeten Marschkolonnen, und wurden auf das Werkgelände geführt. Am Tag der Flucht gingen wir nicht in das Werksgebäude rein, sondern versteckten uns hinter der Werkstatt. Dort lagen viele Röhren, die in der Mitte hohl waren. Wir kletterten in sie rein saßen dort bis zum Abend. Als alle zurück ins Lager gingen, krochen wir aus unserem Versteck raus, kletterten über den Zaun und gingen weiter. “
"In Bremen fanden wir ein kaputtes Haus. Darin lebten wir. Ernährt haben wir uns so: aus den Gärten... Am Stadtrand gab es private Gärten, wo wir nachts hingingen. Wir kletterten in die Gärten und klauten, was dort wuchs. Das waren unsere Lebensmittel. Es war doch September, Oktober. Es gab Kartoffeln und Obst, Äpfel, Birnen... Davon ernähren wir uns. In diesen privaten Häusern. Ich verbrachte dort wohl einem Monat. So habe ich wohl einem Monat meines Lebens verbracht. Mich fasste man früher als meinen Kameraden."
Nach seiner Verhaftung saß Ewgenij in unterschiedlichen Gefängnissen in Bremen und Hamburg. Zweimal wurde er ins Konzentrationslager Neuengamme (Hamburg) überführt. Das erste Mal war er dort für eine kurze Zeit unmittelbar nach der Gefängnisstrafe im Oktober 1942. Darauf wurde er in ein Außenlager in Wittenberg (Brandenburg) etappiert. Dort arbeitete er am Aufbau des Lagers und an einer Fabrikbaustelle. In einem Interview für die KZ-Gedenkstätte Neuengamme, 48 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, erinnert sich Ewgenij an die Einrichtung des Lagers, beschreibt die Lage der Räumlichkeiten und ihre Funktion, und erwähnt den täglichen Appell und die Kontrollen:
„Baracken. Ich erinnere mich, dass hier als erstes ein Gebäude für die SS errichtet wurde. Am Eingang gab es eine Küche. Dann folgte der ‚Waschraum‘ [deutsch im Original]. Danach das ‚Revier‘ [deutsch im Original]. Weiter der ‚Schlafsaal‘ [deutsch im Original]. Und hier Schlafsaal Nr.1, Schlafsaal Nr. 2, Schlafsaal Nr. 3 und der Speisesaal, wo wir aßen. Er hieß ‚Kantine‘ [deutsch im Original] … Das Lager war nicht groß … Ja, die Baracken waren aus Holz … Dort gab es einen doppelten Drahtzaun. Der Draht war in einer ersten Reihe gespannt und in einiger Entfernung dahinter eine zweite Reihe. Er stand unter Strom. An den Ecken standen Türme, die gab es an vier Seiten. Das Lager war klein… 150 Meter lang und etwa 70-80 Meter breit. Ein Quadrat (eher ein Rechteck). Ein kleines Lager… quadratisch … Im Inneren befand sich der Appellplatz [deutsch im Original]. Wir mussten uns jeden Morgen aufstellen. Morgens, mittags und abends wurden wir durchsucht.“
Ewgenij erzählt von der Ernährung im Lager und welche Abwechslung es in den Rationen gab. Darin waren, selten und in geringen Mengen, aber dennoch Margarine, Marmelade und Kartoffeln enthalten. In Erinnerungen von Überlebenden ist der Verzehr solcher Lebensmittel eine Seltenheit:
„Zum Mittagessen gab man uns einen Liter Suppe. Am Abend gab man wieder ein Brot, das in acht Stücke geteilt war. Ach, ich bringe was durcheinander: Abends gab es Margarine und morgens nicht. Das war unser Essen. Aber… noch eine Sache: Am Freitagabend gab man uns kein Brot, wir erhielten fünf gekochte Kartoffeln. Fünf Kartoffeln. Einmal pro Woche gab es Marmelade. Auf jedem Tisch stand ein Tellerchen damit. Am Tisch saßen aber 15 Leute. Jeder bekam einen Löffel Marmelade. An einem Abend der Woche, erhielten wir Hackfleisch mit Gewürzen: mit Pfeffer, Zwiebeln und ähnlichem. Am Abend. Das lag auch auf einem gemeinsamen Tellerchen, jeder bekam davon einen Löffel… Das war alles, was wir zu Essen bekamen.“
In Wittenberg blieb Ewgenij zweieinhalb Jahre, bis die Fabrik gebaut wurde. Danach wurde man ihn wieder in das Konzentrationslager Neuengamme. Dort bekam er die Lagernummer 12118 und bekam einen sog. „Winkel“, eine Markierung in Form von Dreiecken aus verschiedenfarbigem Stoff zur Identifizierung von Inhaftierten nach Herkunftsland, Nationalität, Inhaftierungsgrund:
"Jeder hatte einen Winkel. Sowohl Russen als auch Franzosen, Niederländer und Belgier... Alle hatten Winkel, eine Nummer und einen Winkel. Aber wir hatten eine Nummer [Malychin zeigt die Stelle, an der die Nummer stand], und der Winkel war rot und gerade: so sah er aus. Und andere hatten einen quadratischen, ich meine, einen dreieckigen. Der Winkel war ein Dreieck. Daran erinnere ich mich. Und die Deutschen hatten so einen... roten Winkel... außerdem gab es grüne Winkel. Aber ich erinnere mich nicht mehr, wer welche Winkel trug: dreieckige Winkel waren sowohl grün als auch rot."
In Neuengamme traf Ewgenij erneut seinen Freund Albert, der die ganze Zeit dort einsaß und Kontakte mit anderen Gefangenen Kontakte knüpfen konnte. Diese freundschaftlichen Beziehungen, die Unterstützung von anderen Häftlingen und gegenseitige Hilfsleistungen, halfen Ewgenij in diesem Lager zu überleben:
„Und er [Albert] verschaffte mir Arbeit in den Werkstätten. Er war vernetzt und brachte mich dorthin. Andernfalls müsste ich in einer Betonkolonne arbeiten oder andere unqualifizierte Arbeit machen. So arbeitete ich unter relativ guten Bedingungen und lernte dort vieles. Ich arbeitete zusammen mit Franzosen, Niederländern und Belgiern. Sie waren gute Experten und halfen mir. Ich lernte vieles.“
Am 25. April 1945 wurden Ewgenij und andere Häftlinge aus dem Lager nach Lübeck (Schleswig-Holstein) transportiert. Am 3. Mai befand sich Ewgenij auf dem Schiff «Cap Arcona» in der Bucht von Neustadt (Schleswig-Holstein), wo er die Bombardierung durch die englische Luftwaffe miterlebte:
„Ich war zunächst im Laderaum, aber nachdem ‚Cap Arcona‘ bombardiert wurde, rannte ich aufs Deck. Hier begannen sich alle auszuziehen. Überall war Feuer. Menschen sprangen ins Wasser… Es war am 3. Mai. (…) Wir wurden gegen 15:45 Uhr ausgebombt, gegen ca. 11 [23:00] Uhr sammelte man uns ein, da lag „Cap Arcona“ bereits umgedreht. Ich sprang ins Wasser und klammerte mich an einem Boot fest. Das Boot war vertäut und wir hielten uns daran fest. Wir waren im Wasser. Dann schwammen wir zurück. Das Boot war mit einem 50 meterlangen Seil vertäut. Wir schwammen bis zum Schiff und legten uns dort hin.“
Ewgenij überlebe mit Verbrennungen am ganzen Körper. Zunächst ließ er seine Verbrennungen, dann ein trophisches Geschwür behandeln. Er durchlief ein sowjetisches Filtrationslager und diente danach in der Roten Armee in einem Ersatzregiment. Bis März 1947 diente er in Polen und kehrte danach nach Hause, nach Charkiw zurück.
Nach seiner Rückkehr arbeitete Ewgenij in der Malyschew-Fabrik. Er heiratete und bekam zusammen mit seiner Frau zwei Töchter. Er wirkte aktiv im Verein der „Ehemaligen Konzentrationslager-Häftlinge“. Ewgenij Malychin starb im März 2021.
Um KZ-Häftlinge zu systematisieren und zu identifizieren, wurde ihre Lagerkleidung mit einem Stoffaufnäher, einem sog. „Winkel“, oft in Form eines umgedrehten Dreiecks versehen. Dieser hatte, je nach Eingruppierung der Häftlinge, unterschiedliche Farben. Zusätzlich wurden unterschiedliche Nationalitäten mit jeweiligen Buchstaben markiert. „P“ für Polen, „F“ für Franzosen, das „R“ stand dabei nicht nur für Russen, sondern auch für andere Sowjetbürger.
Quellen:
Interview mit Jewgenij Sacharowitsch Malychin vom 11.08.1993, Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, M 2003-1772.
Interview mit Ljubow Rudnewa vom 21.05.2023, Archiv des Vereins „Charkow molodoj“.
„Cap Arcona“ war ein deutsches Passagierschiff. Im Frühling 1945 befanden sich an Bord ca. 4600 KZ-Gefangene aus unterschiedlichen Lagern. Am 3. Mai griffen die brittische Flugzeuge das Schiff in der Lübecker Bucht an und versenkten es, weil sie dort fälschlicherweise deutsche Truppen vermuteten. Auch das begleitende Schiff „Thielbek“ mit 2800 KZ-Gefangenen an Bord wurde versenkt. Lediglich 400 Menschen überlebten die Angriffe.