Meldeaufforderung zur Verschickung zur Zwangsarbeit nach Deutschland
Bewohner:innen der von Nationalsozialisten besetzten Gebiete der Sowjetunion mussten sich bei den Arbeitsämtern der Besatzer anmelden, um Lebensmittelkarten zu erhalten. Die Besatzer waren nicht an einer angemessenen Nahrungsmittelversorgung der Bewohner:innen interessiert, weshalb es in vielen Städten und Regionen zu Hungersnöten kam. Die gesamte Bevölkerung konnte sich auf dem Schwarzmarkt und in Dörfern nicht ausreichend mit Lebensmitteln versorgen. Unter diesen Bedingungen war es kaum möglich, sich der Registrierung im Arbeitsamt zu entziehen und damit auf Lebensmittelkarten zu verzichten.
Auf der Grundlage von Listen lokaler Arbeitsämter wurden Meldeaufforderungen erstellt, d. h. Menschen mussten zu einer bestimmten Sammelstelle kommen und sich ärztlichen Untersuchungen und ersten Desinfektionsmaßnahmen unterziehen, um anschließend nach Deutschland transportiert zu werden.

Meldeaufforderung, 1943, Digitales Archiv „Fond 21“, Forschungs- und Bildungszentrum „Memorial“, (https://fond21.memo.ru/doc/223387/2).
Der Text der Aufforderung lautet: „(…) Auf Grundlage des Punkts 4 der Verordnung des Reichsministers für die besetzten Ostgebiete über die Einführung der Arbeitspflicht in den besetzten Gebieten vom 19.12.1941. Im Rahmen der Verordnung vom 16.11.42 sind Sie verpflichtet, am 27. August 1943 um 8 Uhr morgens in die Räumlichkeiten der ehemaligen pädagogischen Schule in Brats‘k zu zur Untersuchung zu erscheinen. Wer nicht zur Untersuchung erscheint, wird nach § 6 der oben genannten Verordnung mit Strafgefängnis bestraft. Vor der Versammlung wird ein Film über den Arbeitsdienst in Deutschland gezeigt. Zudem wird es einen Vortrag über Sinn und Zweck des Dienstes in der Ukraine geben. Alle benötigten Kleidungsstücke sowie persönliche Dokumente, Geschirr zum Essen sind mitzubringen. (…)“
Das Strafmaß für das Nichterscheinen hing von der örtlichen Polizei und der Lage in der besetzten Region ab. Menschen, die sich weigerten, wurden in der Regel in Gefängnisse gesteckt. Aber es sind auch Fälle bekannt, in denen Häuser von Menschen, die vor der Zwangsarbeit flüchteten, verbrannt wurden, ihre Eltern in Geiselhaft kamen und die Geflüchteten bei Gefangennahme öffentlich hingerichtet wurden. Massiver Terror während der Deportationen bewegte einige Menschen dazu, „freiwillig“ zur Zwangsarbeit nach Deutschland zu gehen, in der Hoffnung auf bessere Nahrungsmittelversorgung und fehlende Repressionen in Deutschland.
Trotz harter Strafen versuchten viele Menschen sich der Deportation nach Deutschland mit allen erdenklichen Mitteln zu entziehen. Zumeist flohen Menschen aus ihren Dörfern oder Städten in andere Gebiete zu entfernten Verwandten, was jedoch keinen Erfolg garantierte. Wo es möglich war, schlossen sie sich den Partisanen an. In Belarus gingen teilweise ganze Dörfer in Wälder und flüchteten so vor der gewalttätigen Anwerbung. Andere fügten sich selbst Verletzungen zu, um bei der medizinischen Untersuchung ausgemustert zu werden. Dies endete oft tragisch, da sie trotz der Verletzungen zur Zwangsarbeit deportiert wurden. Wiederum andere bestachen Mitarbeiter in Arbeitsämtern oder Dorfälteste.
Lokale Kollaborateure – ob gezwungen oder freiwillig – spielten eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung von Arbeitskräften nach Deutschland. Dorfälteste und Bezirksbevollmächtigte konnten eine Person vor der Meldeaufforderung schützen oder umgekehrt, als Rache für Vorkriegsereignisse, ihre Namen oben auf die Meldelisten eintragen. In medizinischen Kommissionen bei den Arbeitsbörsen arbeiteten auch einheimische Ärzte, die sich der Zusammenarbeit nicht entziehen konnten, ohne das eigene Leben zu riskieren. Deutsche Besatzungsbehörden stellten fest, dass die Durchführung solcher Aufgaben durch lokale Bevölkerung für sie bequem war: Der Zorn der Menschen richtete sich so auf bestimmte Personen und nicht auf die Besatzer selbst.
Die Intensität der Mobilisierung zur Zwangsarbeit und die Wahrscheinlichkeit eine Meldeaufforderung zu erhalten, hing auch von der Partisanentätigkeit in der Region ab. Um die Abwanderung der arbeitsfähigen Bevölkerung zu den Partisanen zu stoppen, unterbrachen deutsche Besatzungsbehörden regelmäßig die Mobilisierung zur Zwangsarbeit. Jedoch bestand auch für Partisanen die Gefahr, nach Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppt zu werden: Wenn ihnen zunächst bei Festnahme die Erschießung drohte, beschlossen deutsche Besatzer ab Mitte 1943, festgenommene Partisanen in den Status von Kriegsgefangenen zu überführen und sie bei Zwangsarbeiten auszubeuten.
Verfasserin: Evelina Rudenko