„Er erzählte mir, wer hier landet, kann nur selten rauskommen. Nun, danach begannen die Ermittlungen“.
Dawid Isaakowitsch Dodin, Fotograf unbekannt, 1998, © Visual History Archive, USC Shoah Foundation.
Dawid Isaakowitsch Dodin (1921–2011) war ein sowjetischer Kriegsgefangener.
Dawid Dodin wurde am 9. Mai 1921 in einer armen Bauernfamilie im Dorf Wereschtschaki (heute Gebiet Mahiljou, Belarus) geboren. Vor dem Krieg begeisterte er sich für Gymnastik und Akrobatik und arbeitete als Deutschlehrer an einer Dorfschule. Er wurde 1940 in die sowjetische Armee einberufen und kam ins 35. Ponton-Brücken-Regiment. Das war an der westlichen sowjetischen Grenze stationiert, ehemals polnischen Gebieten die 1939 von der Sowjetunion besetzt wurden. Nach dem deutschen Angriff auf die UdSSR geriet Dodins Regiment fast sofort unter Beschuss der deutschen Armee und wurde zerschlagen. Die Überlebenden bekamen den Befehl, sich in Richtung Minsk (Belarus) durchzuschlagen, obwohl die Stadt seit 28. Juni 1941 von deutschen Truppen besetzt war. Am 27. Juli geriet David am Fluss Swislatsch in der Nähe von Minsk zusammen mit Armeekammeraden in deutsche Kriegsgefangenschaft.
Eines der ersten Kriegsgefangenenlager, die David durchlief, war das Dulag in der Nähe der besetzten polnischen Stadt Ostrów Mazowiecka. Dort mussten die Kriegsgefangenen für lokale Gutsbesitzer arbeiten; Ihre Lebensbedingungen waren schwierig: Dawid erinnert sich, dass die Soldaten direkt aus Schweinetrögen essen mussten. Das nächste Lager von Dawid war das Stalag Zeithain in Sachsen. Vor der Zuteilung in die Lager, mussten die Kriegsgefangenen auf einem Feld unter freiem Himmel campieren und übernachten, es war verboten, nachts aufzustehen, wer aufstand wurde beschossen.
Der Deutsch-Sowjetische Krieg war Teil des Zweiten Weltkrieges und begann am 22. Juni 1941 mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion.
Sowjetische Kriegsgefangene beim Transport von Barackenteilen, Herbst 1941, Archiv der Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain.
Eines Tages fragte der Lagerkommandant, wer von den Kriegsgefangenen Deutsch konnte. David meldete sich. Er wurde zum Registrar im Lazarett ernannt, zu seinen Hauptaufgaben zählte das Aufschreiben der Krankengeschichte von Kriegsgefangenen. Er verbarg seine jüdische Identität vor der Lagerleitung, änderte seinen Vatersnamen (von Isaakowitsch zu Iwanowitsch) und gab sich als Belaruse aus. Im Stalag-Lazarett fand keine Selektion von Juden statt, aber eines Tages wurde Dawid von der Gestapo, die ins Lager Zeithain kam, zur Überprüfung gerufen:
"Ich wurde in eine Baracke zur Überprüfung gerufen. Er [ein Gestapo-Mitarbeiter] fragte nach meinem Vor- und Nachnamen. Ich sagte ‚Dodin, David‘. ‚Nationalität?‘ fragte er. Ich sagte, ‚Belaruse‘. Er begann die Vernehmung in reinstem Belarusisch. Dann bat er mich, meine Hose auszuziehen. Ich sagte ihm, dass solch eine gebildete Person keine Drecksarbeit machen sollte, dies sollte lieber ein Arzt tun. Er sagte: ‚Sie haben Recht!‘ Ein rothaariger Deutscher kam ins Büro und sagte, David sei ein Jude. Da stand der Unteroffizier, Dr. Lange, auf und wies ihn zurecht: ‚Stillgestanden! Wenn du es irgendwo wiederholst, sorge ich für deine Versetzung ganz weit weg.‘ Und schmiss ihn raus. Mir sagte er, wenn ich erneut vernommen werde sollte, dass sein Büro aufzusuchen. Danach gab es keine Vernehmungen."
Im Dezember 1941 brach in Zeithain eine Flecktyphus-Epidemie aus. Das Lager wurde unter Quarantäne gestellt, das deutsche Personal verließ es. Dawid erkrankte auch an Flecktyphus und verbrachte 11 Tage bewusstlos. Seine Mitgefangenen trockneten die Brotstücke, die er in dieser Zeit erhielt und gaben sie ihm später, als sein Zustand besserte. Im März 1942 kehrte das deutsche Personal ins Lager zurück; ein Drittel der Kriegsgefangenen war bereits tot. Darauf wurde das Lager in ein Ersatzlazarett umgewandelt. Dodin arbeitete nun als Sanitäter. Er erinnert sich, dass nur schwer (zumeist an Tuberkulose) erkrankte Kriegsgefangene nach Zeithain kamen, die bald darauf starben.
In Zeithain war Dawid Dodin Mitglied einer Untergrundorganisation, die ein anderer sowjetischer Kriegsgefangene, der Schriftsteller Stepan Slobin, gründete. Dodin versorgte die Untergrundmitglieder mit Lebensmitteln, besorgte für sie Schuhe und hielt Berichte über Fluchtversuche an das deutsche Personal zurück. Im April 1944 wurde die Untergrundorganisation enttarnt und all ihre Mitglieder verhaftet. Dodin wurde in Stalag VI G in Oschatz (Sachsen) etappiert. Von dort wurde er zur Zwangsarbeit auf Gemüsefeldern gezwungen. Die Gutsbesitzer behandelten ihn und andere Kriegsgefangene gut, dies lag nicht zuletzt an Nachrichten über den Rückzug deutscher Truppen. Am 24. April 1945 wurde er von der sowjetischen Armee befreit.
Nach seiner Rückkehr in die Sowjetunion arbeitete Dodin in einer Moskauer Fabrik. Im Februar 1947 kehrte er in sein Heimatdorf Wereschtschaki zurück und unterrichtete an der Schule. Alle Verwandten Dawids, außer einer Tante, wurden während des Holocaust in Belarus getötet. Im September desselben Jahres wurde Dawid vom Inlandsgeheimdienst verhaftet und ohne Erklärung in das Moskauer Lubjanka-Gefängnis gesteckt:
„Dann brachte man mich zum Kasaner Bahnhof in Moskau und von dort zur Verwaltung des Inlandgeheimdiensts, dort führte man mich in einen fünfstöckigen Keller. Ich sehe, dass Leute dort nur rein- aber nicht rausgehen. Ich saß so um drei Stunden, dann kam der Tatare heraus [der MGB-Mitarbeiter, der Dodin zur Lubjanka brachte] und sagte: ‚Nun, David, hier ist, was ich für dich tun kann…‘ Er gab mir Brot und meine Proviantration, ein paar Päckchen „Belomor“-Zigaretten, schüttelte meine Hand und sagte weiter: ‚Mehr kann ich nicht tun. Sie werden dich rufen. Gib mir deinen Pass.“ Ich gab ihm meinen Pass, und nach etwa einer Stunde wurde ich ausgerufen. Vor mir stand ein Ermittler, zwei Meter groß, stockbesoffen, er konnte nicht stehen, stützte sich auf einen Stuhl und starrte mich an. ‚Warst du in Kriegsgefangenschaft?‘ ‚Ja, war ich‘. Er drückte einen Knopf und ich wurde sofort in den Keller geschleppt… Dort, in der Zelle saß ein Deutscher, der [vor Prügel] bereits geschwollen war. Er erzählte mir, wer hier landet, kann nur selten rauskommen. Nun, danach begannen die Ermittlungen. ‚Und warum hast du überlebt? Du bist ein Jude und hast überlebt?‘“
Nachdem Dawid in ein anderes Gefängnis etappiert wurde, erfuhr er, dass er unmittelbar nach der Festnahme von Alexander Solowjow, eines anderen Untergrundmitglieds von Zeithain, verhaftet wurde. Ihnen wurde laut Dawid Landesverrat vorgeworfen, weil sie während der Kriegsgefangenschaft im Lager gearbeitet haben. Dawid Dodin wurde zu zehn Jahren und Alexander Solowjow zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt:
"Und plötzlich soll ich um zwei Uhr morgens mit meinen Sachen antreten. Ich ging, und sehe, da sitzt ein junger Mann, ca. achtzehn Jahre alt. Er gibt mir ein Papier: ‚Unterschreiben Sie‘. Ich las: ‚Zehn Jahre‘. Durch eine Sonderkommission, ohne Gericht, ohne alles ... Gut dann waren es also zehn Jahre."
Dodin kam in das Lager Nr. 1 des sowjetischen Gulag-Systems in der Stadt Inta (Komi, Russland). Im Lager arbeitete er in einer Mine, trat als Akrobat in einem Amateurkünstlerkreis zusammen mit Nikolaj Petschkowskij auf, einem berühmten Opernsänger, und schrieb Beschwerden an die Generalstaatsanwaltschaft der UdSSR. Nikolaj erinnert sich, dass Stalins Tod (am 5. März 1953) von den Gefangenen freudig gefeiert wurde.
Im Dezember 1954 wurde Dawid vorzeitig entlassen und 1956 rehabilitiert. Nach seiner Entlassung lebte er weiterhin in Inta. Er heiratete und arbeitete in der in einem Kohlebergwerk. Diese Zeit betrachtete er als die glücklichste seines Lebens.
Nach dem Tod seiner Ehefrau 1977, heiratete er ein zweites Mal und zog nach Leningrad (heute St. Petersburg, Russland). Im Alter kämpfte er mit gesundheitlichen Problemen: Er erblindete zunächst an einem, dann an beiden Augen und verließ das Haus kaum wegen schmerzenden Beinen und fehlendem Aufzug im fünfstöckigen Haus. Am 21. August 2011 verstarb Dawid Dodin im Alter von 90 Jahren.
Autor: Aren Vanyan
Quelle aller Zitate: Interview aus dem Archiv der Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain.