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"Und so gingen wir immer weiter, ich weiß nicht, wieviel wir gegangen waren. Deutsche Kinder gingen raus, schauten auf uns. Ortsbewohner schauten auf uns Hungrige, natürlich gab niemand etwas."

Jekaterina Nikolajewna Korobzowa (geb. 1915)* und Alla Borisowna Plessezkaja (Korobzowa) (geb. 1937)* waren sowjetische Zwangsarbeiterinnen. 

 

Jekaterina wurde am 25. Oktober 1915 im Dorf Korbatschiwka (Gebiet Minsk, Belarus) geboren. Sie wuchs als eines von zehn Kindern in einer Bauernfamilie auf. 1936 heiratete sie den Lehrer Nikolaj Korobzow. Am 24. Januar 1937, kurz nach ihrer Hochzeit, wurde ihre Tochter Alla geboren. Im Jahr 1939 zog die Familie nach Marjina Horka (Gebiet Minsk, Belarus), wo Jekaterina und Nikolaj in der Schule arbeiteten. Allen Regeln zum Trotz, arbeitete Jekaterina als Lehrerin und besuchte zugleich selbst die Schule (sie schloss acht Klassen ab). Außerdem studierte sie im Fernstudium am Moskauer Institut für Fremdsprachen ein Jahr lang Deutsch. 

Im Jahr 1939 wurde Nikolaj zur Roten Armee einberufen und nahm am sowjetisch-finnischen Krieg teil. Er wurde erneut zur Roten Armee eingezogen, als Deutschland im Juni 1941 die Sowjetunion angriff. Als deutsche Truppen Marjina Horka erreichten, schlossen sich Jekaterinas Schwestern einer Partisanengruppe an. 1942 wurden Jekaterina mit einer weiteren Schwester von deutschen Besatzungstruppen verhaftet und in ein Gefängnis gesteckt, weil ihnen Verbindungen zu Partisanen vorgeworfen wurden. Jekaterina wurde nach einiger Zeit freigelassen, ihre Schwester dagegen erschossen. 

Im April 1944 wurden Jekaterina und ihre Tochter Alla im Dorf Tscharwony Berag (Gebiet Gomel, Belarus) verhaftet, das im Partisanengebiet lag, und nach Brandenburg an der Havel (Brandenburg) verbracht. Bei ihrer Ankunft kamen sie in ein Transitlager und wurden nach einer Woche Fabriken zugeteilt. Sie lebten in Baracken, die für etwa dreitausend Menschen ausgelegt waren. Dort lebten verschleppte Zwangsarbeiter:innen aus der Sowjetunion, Belgien, Frankreich und Italien. Sie schliefen in zweistöckigen Kojen. Arbeiter:innen aus der Sowjetunion wurde mit dem Aufnäher „OST“ markiert. Jekaterina und Alla lebten auf unterschiedlichen Etagen, durften sich jedoch besuchen. Ihre Deutschkenntnisse halfen Jekaterina dabei, die Bedürfnisse für sich und ihre Tochter zu kommunizieren. Dies betraf in erster Linie Nahrung, an der es stets mangelte. Jekaterina arbeitete in einem Stahlgießwerk, und ihre Tochter musste Toiletten reinigen. Die Arbeitsbedingungen in der Fabrik waren hart, wie sich Alla, Jekaterinas Tochter, erinnert: 

"Und meine Mutter ging zur Arbeit im Stahlgießwerk. Sie bekam eine Arbeitskluft und Holzschuhe, aber keinerlei Augenschutz. Der Stahl wird gegossen und sie, sehen Sie selbst, ihr rechtes Auge, sie hat kein Auge, sie sieht nicht. Es gab keinerlei Schutz dort, es war eine Arbeit wie in der Hölle!"

So erinnert sich Jekaterina selbst an die Arbeitsbedingungen: 

„Wir drei, drei Frauen nehmen diese Zange und ziehen, ziehen [die Stahlblätter] dorthin, wo der Meister sie haben wollte und legen sie hin, legen sie hin, schon warm, sie kommen doch heiß aus dem Ofen raus. Am Anfang kommt ein solcher Block heraus. So ein riesiges Stück, geschmolzenes Stück, und man lässt es laufen, damit es ausgerollt wird. Der Stahl ist da noch rot und wird weiter ausgerollt und ausgerollt und geht dann der Reihe nach weiter. Und das Gebäude ist riesengroß, riesig. Und dann kommt der Stahl zu dem, der schneidet. Ein Deutscher schneidet es zu Blättern zu, je nach dem, welche Blätter benötigt werden: ein Meter, anderthalb, zwei. Je nach dem, welche Bestellung zu erfüllen ist. Und dann zogen wir sie mit dieser Zange. Man darf sie nicht mit Händen anfassen, weil er noch heiß ist, dieser Stahl. Und wir zogen ihn und zogen mit dieser Zange. Ein Waggon fährt heran, wir beladen und beladen den Waggon. Der Waggon fährt weg, ein weiterer Waggon kommt, nun beladen wir den. Und so ging es die ganze Zeit, das ganze Jahr über mühten wir uns so ab.“

 

Im Mai 1945, als die Rote Armee näher rückte, versuchte die deutsche Lagerführung, die Gefangenen wegzubringen, wie sich Alla erinnert: 

„Als unsere [Armee] bereits mit dem Vorstoß begann, jagten sie [die Lagerverwaltung] alle aus dem Lager raus: ‚Geht voran.‘ Warum, weiß ich nicht. Wir wurden rausgetrieben, auf der Straße aufgereiht und in Richtung Magdeburg [Sachsen-Anhalt] getrieben. Sie trieben uns und sagten: ‚Wer einen Schritt zur Seite macht, wird auf der Stelle erschossen.‘ Und so gingen wir immer weiter, ich weiß nicht, wieviel wir gegangen waren. Deutsche Kinder gingen raus, schauten auf uns. Ortsbewohner schauten auf uns Hungrige, natürlich gab niemand etwas. Und deutsche Mädchen standen dort, sie hatten Puppen und Kinderwagen. Nun, jeder braucht etwas anderes und ich [brauchte] eine Puppe. Sie standen da mit diesen Kinderwagen und Puppen, ich konnte meine Augen von diesen Puppen nicht losreißen. Wir gingen weiter und kamen dann an ein Feld mit irgendeinem Graben. Das war‘s, da haben sie [die Wachen] uns schon allein gelassen gegen Abend.“

 

"Plötzlich begann ein Schusswechsel. Unsere [Rotarmisten] schossen, und sie [die Deutschen] schossen, und wir blieben in der Mitte. Diese Brandbomben flogen hin und her, Geschosse, und wir sitzen in der Mitte. Dann war Stille, Stille, Stille. Niemand war da, weder auf der einen oder auf der anderen Seite. Alle sitzen, Stille."

Jekaterina und Alla wurden von sowjetischen Truppen befreit und konnten nach Marjina Horka zurückkehren. Die Rückkehr zum früheren Leben war schwierig. Jekaterina blieb wegen Augenproblemen arbeitslos. Darüber hinaus wurde sie von sowjetischen Geheimdiensten gebrandmarkt und mehrmals wegen Spionage- und Heimatverratsverdachts vernommen. Nikolaj wurde nach seiner Rückkehr aus dem Krieg von sowjetischen Behörden vor die Wahl gestellt: entweder Karriere oder die Ehe mit einer „Verräterin“, die während des Krieges in Deutschland arbeitete. Nikolaj entschied sich für seine Karriere und ließ sich von Jekaterina scheiden. 

Nach dem Krieg studierte ihre Tochter Alla an einer pädagogischen Hochschule und arbeitete danach an unterschiedlichen Schulen. Sie heiratete einen Offizier und kam von 1970 bis 1972 wieder nach Brandenburg an der Havel, das damals in der DDR lag, wo sie an einer örtlichen russischen Schule arbeitete. Nach ihrer Rückkehr nach Hause ging sie 1993 in Rente. Ihr Ehemann und ihr einziger Sohn starben 2002 bzw. 2004. Während des Interviews, das 2005 aufgezeichnet wurde, lebten Jekaterina und Alla zusammen in Marjina Horka. 

* Die genauen Lebensdaten konnten nicht festgestellt werden. 

Before
After
...

Verfasser: Vasily Starostin

Quellen: Videointerview des Archivs Zwangsarbeit 1939-1945.