Zum Hauptinhalt springen
„Unter den Häftlingen gab es Leute, die ihren Vater für ein Stück Brot verkaufen würden.“

Wladimir Wassiljewitsch Wlassow (1920)* war ein Konzentrationslager-Gefangener.

 

Wladimir wurde in dem Dorf Kawkazskaja (Region Krasnodar, Russland) geboren und wuchs dort auf. 1938 zog er nach Leningrad (heute St. Petersburg, Russland), wo er in das Lesgaft-Institut für Leibeserziehung eintrat. Er schloss sich einer Spezial-Ski-Einheit in der Roten Armee an und kämpfte im sowjetisch-finnischen Krieg von 1940

Nach eigenen Angaben war er zu Beginn des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion ein sowjetischer Späher und befand sich bis April 1942 in der Nachhut der deutschen Truppen bei Leningrad. Am 26. April 1942 wurde Wlassow von deutschen Truppen verhaftet und in ein nicht näher bestimmtes Lager gebracht. Nach einem erfolglosen Fluchtversuch in die Tschechoslowakei wurde er erneut verhaftet und am 18. Juli desselben Jahres in das Konzentrationslager Buchenwald (Thüringen) gebracht.

In Buchenwald arbeitete Wladimir im Steinbruch. Im Herbst 1942 nahm er Kontakt mit „der Leitung des Internationalen Zentrums der Buchenwalder Untergrundorganisation“ auf. Seine geheimdienstliche Tätigkeit konnte er auch in diesem Kreis nicht offenbaren; er beschrieb seine Motive Mitte der 1970er Jahre in einem persönlichen Brief an einen anderen Buchenwald-Häftling, Michail Lewschenkow:

Das Unternehmen „Erla-Maschinenwerk“ in Leipzig war einer der größten Flugzeughersteller im Deutschen Reich. 1943 arbeiteten ca. 64% seiner gesamten 16.000-köpfigen Belegschaft unter Zwang.

Bis 1945 stellte es ca. 11.000 Jagdflugzeuge vom Typ Messerschmidt Bf109 her. Dies entsprach ca. einem Drittel der Gesamtproduktion dieses deutschen Standardjagdflugzeugs.

"Als sowjetischer Geheimdienstoffizier hatte ich kein Recht, den Führungsgremien des politischen Untergrunds beizutreten. Natürlich musste ich die Tatsache, dass ich ein Aufklärer war, nicht nur vor der Gestapo, sondern auch vor meinen Untergrundkameraden verbergen."

Im Juli 1943 wurde Wladimir zusammen mit Dutzenden anderer Häftlinge in ein Buchenwalder Außenlager in Leipzig (Sachsen) geschickt und leistete dort Zwangsarbeit für das „Erla-Maschinenwerk. Eine Beschreibung dieser Arbeit veröffentlichte er in Form einer Kurzgeschichte in der „Sammlung von Erinnerungen an das Konzentrationslager Buchenwald„, die 1945 in Erfurt (Thüringen) erschien. Er betitelte seine Erzählung „Russische Männer“ und widmete sie der Sabotage in der Fabrik, die die deutsche Kriegsproduktion verlangsamte:

Um den Arbeitsrhythmus noch mehr zu verlangsamen, wurde eine Verbindung mit den Unternehmen, den verbündeten Firmen, die unsere Fabrik mit Einzelteilen beliefern, hergestellt. Nachdem sie im Voraus über die knappen Teile informiert worden waren, verzögerten sie absichtlich deren Versand. Dies führte zu einem Stillstand in den Werkstätten. (…) Statt 14-16 Flügel pro Tag im Normalbetrieb produzierten sie nur noch 6-7 Stück!
...

Sammelband mit Erinnerungen an das Konzantrationslager Buchenwald, in dem auch Michail Wlassow seine Erinnerungen veröffentlichte, Erfurt 1945, Archiv der Gedenkstätte Buchenwald.

Gleichzeitig waren andere Arbeiter des Werks an Sabotageaktionen beteiligt, die laut Wlassow von der Werksverwaltung und Buchenwald selbst erfolglos bekämpft wurden. Die Beschreibungen des Vorgangs der Sabotage zeigen auch die Gewalt gegenüber Mithäftlingen, die sich der Sabotage entziehen wollten:

Unter den Häftlingen gab es Leute, die ihren Vater für ein Stück Brot verkaufen würden. Sie arbeiteten unermüdlich, da sie von den Herren Almosen erhielten. Diese „guten“ Arbeiter wurden im Lager ausgenüchtert, indem man den einen oder anderen von ihnen beschuldigte, Brot oder etwas anderes von seinen Kameraden gestohlen zu haben. Dafür wurden sie hart bestraft. Auf diese Weise haben wir diejenigen „erzogen“, die nicht zu uns gehörten. Das war eine Antwort auf die Meister, die in der Fabrik die Genossen, die nicht arbeiten wollten, brutal zusammenschlugen.

 

Mit seiner nachträglichen Schilderung der Sabotage wollte Wladimir zeigen, dass er sich geweigert hatte, mit dem Feind zu „kooperieren“ und den „Kampf“ auch in einer Situation der Zwangsarbeit fortgesetzt hatte:

Hier steht ein Rumpf bereit zum Versand. Der Vorarbeiter ist ans andere Ende der Werkstatt gegangen und ‚unsichtbare‘ Hände nehmen sofort alles ab. Aus Griffen werden Mundstückgarnituren hergestellt, Messer, Gürtel und Planen werden ebenfalls zweckentfremdet. (…) Diejenigen, die bei der Vernietung arbeiteten, nieteten so, dass das Flugzeug bei der Prüfung auseinanderfiel.
...
...

Brief von Michail Wlassow an Michail Lewschenkow, nach 1968, Privatarchiv von Michail Lewschenkow, übergeben an das Archiv der Gedenkstätte Buchenwald.

Im April 1945 wurde Wlassow erneut von Leipzig nach Buchenwald gebracht, wo er sich zunächst unter Hunderten von Häftlingen befand, die auf einen „Todesmarsch“ gehen sollten. Nach seinen eigenen Worten konnte er jedoch im Lager bleiben und „am Aufstand und der Befreiung des Lagers teilnehmen“.

Nach dem Krieg wechselte Wlassow mehrere Berufe und Wohnorte. Ende der 1960er Jahre erzählte er in einem Brief an Lewschenkow, dass er „zu Hause“ (im Dorf Kawkazskaja) als Deutschlehrer arbeitete und für die Schule eine Sammlung von Dokumenten über den antifaschistischen Untergrund im Lager Buchenwald anfertigte. 

In denselben Briefen bedauerte Wlassow auch, dass er aufgrund seines „geheimen“ Status nicht in vollem Umfang an der Arbeit der Untergrundorganisation im Lager teilnehmen konnte und sich deshalb nun als „Statist“ und unerkannter Held unter den anderen Häftlingen fühlte, die ihren Teil an Ruhm und Anerkennung erhalten hatten.

* Die genauen Lebensjahre sind unbekannt.

Before
After
...

Verfasser: Sergey Bondarenko

Quellen:

Sbornik Wospominanij o konzentrazionnom lagere Buchenwald [Sammelband der Erinnerungen an das Konzantrationslager Buchenwald], Erfurt 1945, Archiv der Gedenkstätte Buchenwald.

Brief von Michail Wlassow an Michail Lewschenkow, nach 1968, Privatarchiv von Michail Lewschenkow, aufbewahrt vom Archiv der KZ-Gedenkstätte Buchenwald.