„Sie wurden zu deutschen Kinder. Sie erinnern sich natürlich weder an ihre Heimat noch an ihre Eltern, an nichts.“
Ljudmila Ermoljuk, Standbild aus einem Videointerview von 2015 für die Gedenkstätte und das Museum Sachsenhausen.
Ljudmila Iwanowna Ermoljuk (geb. Rudenkowa) (1933–2017) war eine minderjährige Konzentrationslager-Gefangene.
Ljudmilas Mutter starb als das Mädchen eineinhalb Jahre alt war. Ihr Vater war ein hochrangiger Militär und heiratete zum zweiten Mal. In der Familie kamen zwei weitere Kinder zur Welt. 1937 wurde ihr Vater als Volksfeind verhaftet, später jedoch freigelassen und vom Oberstleutnant zum leitenden Politruk degradiert.
Zu Beginn des Krieges mit Deutschland im Juni 1941 lebte die Familie in einer Militärgarnison in der Nähe von Białystok (heute Polen), das 1939 von der Sowjetunion annektiert worden war. Als die Angriffe begannen, musste sie zusammen mit ihrer Stiefmutter und ihren Geschwistern mehrmals fliehen, bis sie sich im Dorf Kramok (Bezirk Asipowitschy, Belarus) in einem verlassenen Haus niederließen. Die Stiefmutter arbeitete als Wäscherin, aber Ljudmila erinnert sich, dass 400 Gramm Brot und ein halber Liter Suppe für vier Personen nicht ausreichten. Deshalb musste die damals Achtjährige um Almosen bitten. Sie sprach gut Deutsch (als sie klein war, hatte sie eine Wolgadeutsche als Kindermädchen) und rettete mit ihren Sprachkenntnissen mehrmals ihre armenische Stiefmutter, indem sie anderen erklärte, dass sie keine Jüdin sei.
Anfang 1943 wurde den deutschen Besatzungsbehörden angezeigt, dass das Oberhaupt von Ljudmilas Familie ein Militär sei. Ljudmila erinnert sich, dass sie deshalb als Mädchen festgenommen wurde. Sie wurde ins Kriegsgefangenenlager in Babrujsk (Belarus) gebracht, wo die Haftbedingungen nicht nur für Kinder, sondern auch für erwachsene Männer extrem schwierig waren:
"Nun war ich dort unter freiem Himmel. Es war Januar, eine Eiseskälte, mit mir waren noch vier weitere Jungen. Und sie [die Kriegsgefangenen] legten uns so hin, einen zum anderen, in einen Haufen und verdeckten uns mit ihren Körpern, damit wir Kinder nicht froren."
Aus Babrujsk wurden die Kinder ins deutsche Konzentrationslager Majdanek (heute Polen) abtransportiert. Dort kamen sie in eine Kinderbaracke und wurden, als Maßnahme gegen Lausbefall, kahlrasiert. In Majdanek wurden die Kinder Teil eines medizinischen Forschungsprogramms:
„Eines Tages kamen deutsche Ärzte an, alle in Uniform. Sie nahmen allen Kindern eine Blutprobe ab, es waren wahrscheinlich bis zu 1000 Kinder dort. 150 Menschen hatten die erste Blutgruppe. Alle waren weiß, blonde Haare, hatten weiße Haut, helle Augen. Jemand mit braunen Augen wurde nicht genommen. Und wir wurden aus Majdanek hierher nach Sachsenhausen überführt.“
Im Konzentrationslager Sachsenhausen (Brandenburg) blieben die Kinder so lange, bis ihre Haare wieder gewachsen waren. Man versuchte die ganze Zeit, sie nicht aus der Baracke zu lassen und die Kommunikation mit anderen Gefangenen zu unterbinden. Sie bekamen nur wenig zu essen. Ljudmila erinnert sich, dass die Kinder nicht mit einander stritten, die Jüngeren nicht ärgerten und auch unter solch schwierigen Bedingungen versuchten, sich mit Spielen abzulenken:
„Kinder bleiben immer Kinder. Was hatten wir, welche Spiele? Wir wollen auch mit Puppen spielen. Wie alt waren wir: 6 bis 14 Jahre alt? Aber wir spielten nicht mit Puppen, wir hatten keine Puppen. Aber wir hatten solche Stöcke. Wir schmissen sie durcheinander in einen Haufen, und dann fängst du an, einen nach dem anderen rauszunehmen, dabei durften sich die anderen Stöcke nicht bewegen. Wer die meisten Stöcke rauszog, dem rupfte jeder ein Stück vom Brot vom Abendessen ab und gab es dem, wer gewonnen hat.
Und dann gab es das Steinchenspiel. Es gab fünf Steine, du wirfst einen hoch und greifst einen, dann waren’s zwei, wirfst und greifst – drei, wirfst – vier. Solche Spiele hatten wir. Aber Puppen gab es nicht. Dabei wünschten wir uns die sehr. Was will ein sechsjähriges Mädchen schon? Natürlich möchte es mit einer Puppe spielen.“
Rekonstruktion des von Ljudmila Jermoljuk beschriebenen Volksspiels mit Kieselsteinen. Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen, 2023.
Nach einiger Zeit wurden die Kinder aus Sachsenhausen in ein Kinderheim in Rathenow bei Berlin (Brandenburg) gebracht:
„Das war eine SS-Heimschule [deutsch im Original], das stand auf dem Schild. Alle dachten, wir wären deutsche Kinder. Niemand wurde zu uns gelassen und wir durften nicht rausgehen. Und da waren wir. Hier hatten wir saubere Betten, drei Mahlzeiten pro Tag, jeden Tag bekamen wir so eine Schachtel mit Margarine, sie ähnelte einer Streichholzschachtel. Wir erholten uns und kamen zu sich. Dann begannen sie, uns in deutsche Krankenhäuser zu bringen, zur Blutabnahme. Sie kamen und nahmen fünf bis sechs Leute mit und fuhren sie weg. Nicht alle kehrten von dort zurück, wahrscheinlich konnten die Geschwächten nicht zurückkehren, weil sie zu nicht mehr zunutze waren. Sie wurden hierher nach Sachsenhausen gebracht, ins Krematorium. So wurden wir allmählich immer weniger.“
Ljudmila erzählt, dass die Kinder in der Schule streng behandelt wurden. Man achtete genau auf Sauberkeit, bestrafte sie für jedes Vergehen und sie durften nur Deutsch sprechen:
„Für alles gab es Prügel. Wenn du gehst und keinen Knicks machst. Wenn dir jemand entgegenkommt, musst du unbedingt deine Knie beugen, falls nicht, gab es Prügel. Sie haben gnadenlos geschlagen. Ja. Besonders die Kleinen haben es abgekriegt. Es war verboten Russisch zu sprechen, nur Deutsch war erlaubt. (…) Sie gaben uns schon andere Namen, ich hieß nicht mehr Ludmila, sondern Lucia Rudenkof. Eines Tages kamen sie und begannen, diese Kleinen wegzubringen, um sie einzudeutschen. Sie wurden zu deutschen Kinder, erhielten einen Nachnamen, einen Vornamen, und sie blieben in Deutschland. Sie erinnern sich natürlich weder an ihre Heimat noch an ihre Eltern, an nichts.“
Auszug aus einem Interview mit Ludmila Ermolyuk für die Gedenkstätte und das Museum Sachsenhausen, 2015.
Bis Ende April 1945 überlebten laut Ljudmila von 150 Kindern, die in das Kinderheim in Rathenow kamen, nur 26. Eines Morgens (an den genauen Tag erinnert sich Ljudmila nicht) begriffen die Kinder, dass niemand mehr in der Schule war und sie frei waren. In der Nähe des Kinderheims trafen sie auf eine Kolonne sowjetischer Soldaten, die sie sofort in Obhut nahm. Ljudmila erinnert sich daran, dass die Militärs sie sehr liebevoll behandelten, sie auf Händen trugen, ihnen Zucker gaben und von eigenen Kindern erzählten. Sie blieb bei einer Militärabteilung und wurde zur „Tochter des Regiments“ . Als Zwölfjährige arbeitete sie an der Fernsprecheinrichtung und half bei der Kommunikation mit deutschen Militärs. Für diese Arbeit als Übersetzerin erhielt sie sogar eine Medaille „Für militärische Verdienste“:
"Hier in Deutschland wurde unter jedem Haus automatisch ein Luftschutzbunker gebaut. Dort suchten sowohl Zivilpersonen als auch Militärs Schutz. Darunter waren auch Militärs, drei oder vier Leute, ich stieg zu ihnen ab und überredete sie. ‚Die Zivilbevölkerung geht nach Hause, es wird nichts passieren. Der Krieg ist vorbei. Und die Militärs kommen mit und ergeben sich.‘ Sie sagen: ‚Sobald wir mit dir hochgehen, werden wir erschossen.‘ So führte ich 47 Menschen vom Militär raus. Ich sage ihnen: ‚Ihr geht bei uns für drei — vier Jahre in Gefangenschaft und kehr lebend zu euren Familien zurück.‘ Also. Ich rettete. Mich selbst rettete ich und sie rettete ich auf diese Weise. Nun, was sollte ich anderes tun?"
Nach dem Krieg nahm Ljudmila wieder Kontakt zu ihrer Stiefmutter auf. Das leben in der Familie war kompliziert. Um niemanden zur Last zu fallen, ging das Mädchen in ein Kinderheim in Gomel (Belarus).
Die heranwachsenden Jugendlichen wurden Schulen und Fabriken zugewiesen. Tagsüber arbeitete Ljudmila, abends hatte sie Unterricht und betrieb Fallschirmspringen. Mit 20 Jahren heiratete sie einen Militärpiloten. In der Familie kamen zwei Kinder zur Welt, später drei Enkel und zwei Urenkel. Weil die Familie in Militärgarnisonen lebte und oft umzog, hatten Ljudmila keine Möglichkeit, eine Arbeit zu bekommen. Sie war jedoch gesellschaftlich aktiv und Leitete über 20 Jahre die „Kalugaer Regionalabteilung der Russländischen Union ehemaliger minderjähriger Gefangener von faschistischen Konzentrationslagern“, mit über 23.500 Mitgliedern. Sie beteiligte sich an Buchprojekten und Denkmälern und organisierte für die Mitglieder Kuraufenthalte und Reisen nach Deutschland.
Ljudmila Iwanowna Ermoljuk starb 2017.
Tochter des Regiments (oder Sohn des Regiments) — ein Kind, das in die Obhut einer (sowjetischen) Militäreinheit geriet. Dieses konnte sogar in den Personenstand der Einheit aufgenommen werden.
Verfasserin: Vera Yarilina
Quellen: Die Biographie basiert auf Interviewmaterialien von Ljudmila Ermoljuk mit der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen.