"Leute, habt keine Angst, lauft weg, wir wurden zufällig erwischt, lauft weg!"
Porträt von Mark Tilewitsch, Moskau, 1940, Privatbesitz, Gedenkstätte Bergen-Belsen.
Mark Grigorjewitsch (Hirschewitsch) Tilewitsch (1922–2017) war ein sowjetischer Kriegsgefangener und Konzentrationslager-Häftling.
Mark Tilewitsch wurde am 10. Juli 1922 in Moskau geboren. Sein Vater, Grigorij (Grischa) Tilewitsch, war in seiner Jugend Mitglied der jüdischen Arbeiterpartei Bund. Er wurde verhaftet, emigrierte dann in die USA, kehrte aber nach der Februarrevolution 1917 nach Russland zurück. Er arbeitete in der wichtigsten sowjetischen Zeitung „Pravda“, zunächst in der Brief- und Anzeigenabteilung, wonach er bald eine hohe Position übernahm. Marks Mutter, Anna Markowna Sirowskaja, besuchte eine Sanitätsschule und war während des Bürgerkriegs im Untergrund an der Seite der Bolschewiki in der Ukraine tätig.
Nach seinem Schulabschluss 1940 wurde Mark Tilewitsch in die Rote Armee eingezogen. Er diente in der Artillerie an den westlichen Grenzen der UdSSR (heute litauisches Staatsgebiet). Er wurde Unteroffizier und stellvertretender politischer Leiter der Batterie.
Bund (jidd. Union) ist die abgeküzte Bezeichnung für den „Allgemeinen jüdischen Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland„. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1940er Jahre setzte sich diese Partei für wirtschaftliche, nationale und gesellschaftliche Rechte der jüdischen Arbeiter:innen im östlichen Europa ein.

Mark Tilewitsch als Rotarmist, Kaunas, 1941, Privatbesitz, Gedenkstätte Bergen-Belsen.
Der Morgen des 22. Juni 1941 begann für ihn mit einem Luftangriff und einer Bombardierung des Militärlagers bei Kazlų Rūda (Litauen) durch die deutschen Truppen, 20 Kilometer von der sowjetisch-deutschen Grenze entfernt. Der 18-jährige Unteroffizier Tilewitsch führte eine Kolonne sich zurückziehender sowjetischer Soldaten an. Bei allen herrschte, so seine Erinnerungen, eine gedrückte Stimmung:
„Nun, ich war ein kleiner Mann und verstand nichts, doch erst später wurde mir klar, dass es absolut keine Organisation gab; dass alles dem Zufall überlassen wurde und jeder Regimentskommandeur nach eigenem Ermessen handelte.“
Im Juli 1941 wurde Mark schwer verletzt und erlitt einen Schock. Nachdem er ohnmächtig geworden war, wurde er gefangen genommen. Als er aufwachte, sah er, dass jemand die roten Kommissarrauten von seinem Ärmel gerissen und ihm dadurch das Leben gerettet hatte. Die Überlebenschancen eines jüdischen Kommandeurs waren seiner Ansicht nach gleich Null. Sein erstes Lager war Fort Nr. 6 in Kaunas (Litauen). Die Gefangenen wurden im Burggraben des alten Forts unter freiem Himmel festgehalten:
"Es war natürlich ein schrecklicher Ort. Von Zeit zu Zeit wurden Kadaver von Pferden dorthin gebracht, sie wurden hingeworfen, in Stücke gerissen, um dann etwas daraus zu kochen. Und das, stellen Sie sich vor, das wurde von Menschen getan, die völlig wahnsinnig vor Hunger waren."
Hier fand die erste Selektion statt – Kommissare, Politruks und Juden wurden identifiziert. Mark verbarg den jüdischen Vor- und Vatersnamen und nannte sich Michail Grigorjewitsch. Im Herbst 1941 wurden er und andere Kriegsgefangene über das Durchgangslager Ebenrode (heute Nesterow, Region Kaliningrad, Russland) in das Stalag X D 310 nach Wietzendorf (Niedersachsen) geschickt. So erinnert sich Mark an die Bedingungen, unter denen sie in das Stalag gebracht wurden:
„Tausende von Kriegsgefangenen stehen in Kolonnen aufgereiht, und man begann, uns als erste in die Güterwaggons zu verladen. So standen wir da, eng aneinandergedrängt, sich zu bewegen, einem Bedürfnis nachzugehen, wie man so sagt, war unmöglich. Es wurde an Ort und Stelle uriniert.“
Im Stalag erhielt Mark ein Abzeichen mit einer Nummer und wurde in die kleinste Arbeitsgruppe der Schreiber aufgenommen. Das Essen war sehr knapp:
„Das war das Leben von Menschen, die dem Hungertod geweiht waren. Verstehen Sie? Aber wir konnten unsere Energie nirgends verbrauchen, wir konnten nur kommunizieren (…) Nun, natürlich zwangen wir uns zu gehen, nicht zu liegen und uns die ganze Zeit zu bewegen, wenn es möglich war, und natürlich besonders (…) solche Momente, die mit dem Warten auf das Essen verbunden waren. Es war irgendwie, wissen Sie (…) Damit kein einziger Krümel von dem erhaltenen Brot, Gott bewahre, verlorengeht, wurden die Hände geleckt.“
Von Wietzendorf aus wurde Mark zu Holzfällerarbeiten zum Stalag X C Nienburg (Niedersachsen) verbracht. Seine Kameraden im Arbeitskommando waren überzeugt, dass aus diesem Holz Gewehrkolben für die Wehrmacht angefertigt wurden. Sie beschlossen das Sägewerk in Brand zu setzen, um die Versorgung der Front mit Waffen zu unterbrechen:
„Kurz gesagt, das gelang uns. Es gab ein Feuer, auch im Wald. Dort wurden alle Kriegsgefangenen der umliegenden Lager zusammengetrieben, darunter auch ein französisches Lager, das nicht weit entfernt von uns lag. Sie standen schon, die Franzosen, und wir gingen und alle hoben die Hände und sie verstanden, dass wir das mit Absicht taten. Das war eine große Auszeichnung, denn es war Solidarität unter diesen Bedingungen!“
Im Juni 1943 flohen Mark und drei Kameraden aus dem Lager. Doch sie wurden, gekleidet in die Kluft polnischer Kriegsgefangener in einem Eisenbahnwaggon unter Holzbrettern gefunden und daraufhin stark verprügelt. Anschließend wurden sie in die Arrestzelle des nächstgelegenen Konzentrationslagers gesteckt und dann ins Kriegsgefangenenlager Kirchdorf (Niedersachsen) überstellt. Hier unternahmen Mark und seine Kameraden einen weiteren Fluchtversuch, scheiterten jedoch erneut. Das Lager in Kirchdorf zeichnete sich durch die besondere Grausamkeit seiner Wachleute aus. Um neue Fluchtversuche zu verhindern, wurden für gewöhnlich nicht nur die Geflohenen, sondern das ganze Lager hart bestraft:
Der Deutsch-Sowjetische Krieg war Teil des Zweiten Weltkrieges und begann am 22. Juni 1941 mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion.
"Sie trieben das ganze Lager zusammen, ließen uns antreten, das heißt, der Kommandant ließ uns hervortreten und ich wurde geschlagen. Und er sagte: 'Sie werden zur Erschießung geführt. Jeder, der es wagt, das zu wiederholen, wer fliehen will, muss wissen, dass er erschossen wird.' Und ich sehe die Jungs da stehen und weinen, die Beziehungen zwischen uns im Lager waren ziemlich gut. Nun, ich beugte mich vor und rief: 'Leute, habt keine Angst, lauft weg, wir wurden zufällig erwischt, lauft weg!'"
Mark wurde in einem anderen niedersächsischen Gefängnis in Nienburg an der Weser inhaftiert. Er landete in einer Zelle mit drei sowjetischen Offizieren, die wegen Untergrundarbeit und Propaganda verhaftet worden waren. Zwei Monate später wurden die Häftlinge paarweise aneinandergefesselt und in das Konzentrationslager Sachsenhausen (Brandenburg) überführt. Hier landete Mark in einem „Bombenräumkommando“: Ihre Aufgabe bestand darin, Blindgänger zu suchen und zu räumen:
„Ich erinnere mich, dass wir – ein Tscheche mir gegenüber und ich – diese Bombe mit den Füßen festhielten, und ein betrunkener Pyrotechniker das Auto durch diese Gruben und Schlaglöcher fuhr. Nach dem Luftangriff! Und jeder von uns dachte: ‚Kommen wir da durch oder nicht?'“
In Sachsenhausen schloss sich Tilewitsch einer geheimen Widerstandsgruppe an: Zusammen mit seinen Kameraden beteiligte er sich an Sabotageakten, verteilte als Vorbereitung eines Aufstands Flugblätter und Informationen über den Vormarsch der sowjetischen Truppen.
Am 21. April 1945 wurden die Lagerhäftlinge auf einen Fußmarsch in Richtung Ostsee geschickt, während die SS-Leute neben ihnen auf Rädern fuhren. Tilewitsch war überzeugt, dass die SS-Leute vorhatten, die Häftlinge auf Lastkähne zu schaffen und im offenen Meer zu ertränken. Wer unterwegs stehenblieb oder fiel, wurde erschossen. So erinnerte sich Mark an diesen Marsch:
„Viele hatten Holzsohlen, stellen Sie sich tausende Füße vor. Der Aufprall dieser Sohlen auf Asphalt ist etwas Schreckliches. Wie, wissen Sie, wie beim Trauermarsch.“
Am 2. Mai 1945 wurde Tilewitsch zusammen mit anderen Gefangenen in der Nähe von Schwerin (Mecklenburg-Vorpommern) von Truppen der Roten Armee befreit. Mark Tilewitsch blieb noch anderthalb Jahre in Deutschland. Nach zahlreichen Überprüfungen diente er in der sowjetischen Besatzungszone.

Mark Tilewitsch während des Armeedienstes in Deutschland, Stendal, 1946, Privatbesitz, Gedenkstätte Bergen-Belsen.
Im Oktober 1946 konnte Mark endlich nach Hause zurückkehren. In Moskau heiratete er Anna Sawinych, die er seit der Schulzeit liebte. Im Jahr 1951 beendete Mark sein Studium an der Fakultät für Redaktions- und Verlagswesen der Moskauer Druckerei-Fachhochschule. Für einen ehemaligen Kriegsgefangenen war es schwierig, eine Arbeit zu finden. Um seine Familie zu ernähren, schrieb er unter falschem Namen Artikel und Kommentare. Erst nach Stalins Tod 1953 konnte Mark eine offizielle Stelle bei einer Zeitung bekommen und unter seinem eigenen Namen veröffentlichen. Von 1959 bis zu seinem Lebensende arbeitete er ununterbrochen für die größte sowjetische Automobilzeitschrift „Am Steuer“. Vom Sportjournalisten arbeitete er sich bis zum stellvertretenden Chefredakteur hoch.
Mark arbeitete aktiv im Verband der sowjetischen Veteranen mit, er war Vize-Präsident der russischen Sektion des Internationalen Sachsenhausen-Komitees, einem Verband ehemaliger Sachsenhausen-Häftlinge, sowie Vize-Präsident des Russischen Vereins ehemaliger Konzentrationslager-Häftlinge und Mitglied des internationalen Beirats der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten.
Mark Grigorjewitsch (jid. Girschewitsch) Tilewitsch starb am 7. August 2017 in Moskau im Alter von 95 Jahren.
Bombenräumkommando – ein Arbeitskommando von Häftlingen, die zur Suche und Entschärfung von nicht explodierten Bomben und Geschossen eingesetzt wurde. In der Regel erfolgte dies ohne spezielle Ausrüstung. Ehemalige Gefangene aus der Sowjetunion verwenden in ihre Erinnerungen hierzu oft den deutschen Begriff „Bombensuche“.

Verfasserin: Anna Bulgakova
Quellen:
Interview mit Mark Tilewitsch, 2004, Zeitzeug_innen-Interviews, Gedenkstätte Bergen-Belsen, Stiftung niedersächsische Gedenkstätten.
Weitere Quellen aus dem Bestand des Archivs der Gedenkstätte Bergen-Belsen, Stiftung niedersächsische Gedenkstätten.