Zum Hauptinhalt springen
„In Majdanek konnte man durch den Stacheldraht manchmal die Straße sehen, mit Bäumen am Rand Pferdewagen, Fußgängern. Hier dagegen, hinter diesen Mauern, sind wir völlig von der Außenwelt abgeschnitten.“

Antonina Nikiforova bei einer Gedenkveranstaltung auf der Insel Saaremaa, 1965. Fotograf unbekannt. Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück.

Antonina Alexandrowna Nikiforova (19072001) war eine sowjetische Kriegsgefangene und KonzentrationslagerGefangene. 

 

Antonina Nikiforowa wurde in St. Petersburg (Russland) geboren. Von sechs Kindern in der Familie Nikiforow überlebten drei Schwestern: Tamara, Ljudmila und Antonina. Antonina war ein so kränkliches Kind, dass ihre Mutter ihr einen Platz auf dem Friedhof kaufte, jedoch sollte Antonina ein langes Leben haben. 

Im Jahr 1936 machte Antonina ein Diplom als Kinderärztin und schloss daran eine Promotion an. Sie spezialisierte sich auf pathologische Anatomie. Wegen der Mobilisierung konnte Antonina ihre Doktorarbeit nicht fertigstellen. 1939 wurde sie zweimal einberufen: zum sowjetisch-finnischen Krieg und nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Polen.

...

Porträt von Antonina Nikiforowa aus dem Graduierten-Album des Ersten Leningrader Medizinischen Instituts, 1931-1936, Leningrad, Fotograf unbekannt, Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück.

Im Jahr 1941 wurde Antonina erneut in die Armee einberufen, wo sie nun als Kapitänin des medizinischen Dienstes in der Marine diente. Im Oktober 1941 wurde sie auf der Ostseeinsel Saaremaa (Estland) gefangen genommen. Dort blieb Antonina bis Januar 1943 und arbeitete im Krankenhaus für Kriegsgefangene. Danach durchlief sie mehrere Stalags in besetzten Estland und Litauen, bevor sie ins Stalag 319 in Chełm (Polen) kam, wo sie den Status einer Zwangsarbeiterin bekommen sollte. Antonina lehnte den Übergang zur freiwilligen Arbeit in der deutschen Industrie ab und wurde darauf ins NS-Konzentrationslager Majdanek (Lublin, Polen) deportiert.

Im April 1944 wurde Antonina in das Konzentrationslager Ravensbrück (Brandenburg) verlegt. Im Buch „Das darf sich nicht wiederholen“ erinnert sie sich an den Unterschied zwischen Majdanek und Ravensbrück: 

"In Majdanek konnte man durch den Stacheldraht manchmal die Straße sehen, mit Bäumen am Rand Pferdewagen, Fußgängern. Hier [in Ravensbrück] dagegen, hinter diesen Mauern, sind wir völlig von der Außenwelt abgeschnitten."

In Majdanek arbeitete Antonina in einer Wäscherei, in Ravensbrück dagegen wurde sie bereits in den ersten Tagen im Lager in die Krankenbaracke eingeteilt. Dort musste sie sowohl Kranke behandeln als auch Autopsien durchführen. Während der Evakuierung des Lagers blieb Antonina als Ärztin bei den Patienten in Ravensbrück. Die Tage vor der Ankunft der Roten Armee beschrieb sie so:

Alle waren weg. Es gab keine Lebensmittel im Lager. Die Stromkraftwerke wurden gesprengt, wir blieben ohne Licht und ohne Wasser. Auf Umwegen fanden wir ein Lager mit Paketen des Roten Kreuzes und gaben die Leute zumindest etwas zu essen.

 

Nach der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee wurde Antonina zur Chefärztin im Infektionshospital in Ravensbrück ernannt. In dieser Zeit kam ihr die Idee, ein Buch über die Gefangenen der Konzentrationslager zu schreiben. Sie begann Zeugnisse von ihren Mitgefangenen zu sammeln. Die meisten Erinnerungen waren auf Deutsch, einige auf Französisch und Polnisch. Bei der sowjetischen Militärführung weckte Antoninas Tätigkeit Misstrauen, weshalb sie die Originalmanuskripte an den SMERSh abgeben musste. Außerdem verbrachte Antonina zwei Monate im Bunker, dem ehemaligen Lagergefängnis, nachdem sie von einer Mitgefangenen denunziert worden war. Letztendlich wurde sie freigesprochen und freigelassen.

Ende Oktober 1945 konnte Antonina nach Hause fahren. Nach ihrer Ankunft in Leningrad (so hieß St. Petersburg seit 1924) bekam sie jedoch keine Aufenthaltserlaubnis für die Stadt. Antoninas Schwester Tamara war während des Krieges Direktorin einer Einrichtung für Kinder, die aus dem belagerten Leningrad evakuiert wurden. Sie befand sich im Dorf Sujerka (Region Tjumen, Russland).

...

Gruppenfoto vom medizinischen Personal in Sujerka mit Antonina in der Mitte, 1947, Fotograf unbekannt, Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück.

Dem Rat ihrer Schwester folgend zog Antonina nach Suerka und wurde zum Chefärztin im örtlichen Krankenhaus. Nach einer Zeit adoptierte sie den achtjährigen Jungen Arkadij aus dem Waisenhaus. Laut Erinnerungen von Stella Kugelman wurde Antonina im Dorf gut behandelt:

"Schließlich gab es in Sibirien immer viele Verbannte, alle Menschen, die aus Zentralrussland verbannt wurden. Es war nichts Besonderes, wenn eine Person im Lager oder im Gefängnis war, das überraschte niemanden."

Nach ihrer Rückkehr nach Leningrad 1948 erhielt Antonina nach Überwindung vieler Hindernisse eine Stelle als Pathologin im Botkin-Infektionskrankenhaus, wo sie bis zur Rente arbeitete. 

Das Manuskript ihres Buches „Es darf sich nicht wiederholen“ reichte sie Ende der 1940er Jahre in die Redaktion der sowjetischen Zeitschrift „Znamja“ ein, aber das Buch wurde erst 1956 veröffentlicht. Nachdem das Buch herauskam, wurde sie, so erinnert sich Antonina, im Leningrader Krankenhaus besser behandelt; davor, gingen ihre Kolleg:innen mit ihr „nicht wie mit einem Menschen um.“

...

Treffen ehemaliger Häftlinge v.l.n.r.: Änne Saefkow, Marie-Claude Vaillant-Couturier, Antonina Nikiforowa, Zdenka Nedvedova, 1957, Fotograf unbekannt, Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück.

1966 veröffentlichte Antonina ein zweites Buch unter dem Titel „Die Geschichte von Kampf und Freundschaft“. Sie wollte noch mehr über Konzentrationslager schreiben — das Material würde für neue Bücher ausreichen, jedoch kam es anders.

Antonina blieb in Kontakt mit ehemaligen Mitgefangenen: Sie führte aktive Korrespondenz, war Mitglied des Sowjetischen Kriegsveteranen-Komitees und des Internationalen Ravensbrück Komitees. Über das Kriegsveteranen-Komitee wurde Antonina von Stella Kugelman, auch eine ehemalige Ravensbrück-Gefangene, kontaktiert. Als Stella zur Behandlung nach Leningrad reiste, trafen sie sich und waren seitdem befreundet. Stella heiratete Antoninas Sohn und nahm den Nachnamen Nikiforov an.

...

Antonina mit Schwiegertochter Stella und den Enkelkindern Artjom und Valentina, 1995, Fotograf unbekannt, Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück.

Antonina starb im August 2001 in St. Petersburg. Nach ihrem Tod übergab Stella Antoninas Archiv, das sich über die Jahre der Kommunikation mit ehemaligen Gefangenen ansammelte, an die Mahn-und Gedenkstätte Ravensbrück. 

Before
After
...

Verfasserinnen: Liliia Zainetdinova und Olga Bubnova  

Quellen: 

Interview mit Antonina Nikiforowa für die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, 1994, Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. 

Interview mit Stella Nikiforowa für die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, 2004, Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. 

Antonina Nikiforova: Eto ne dolzhno powtoritsja [Das darf sich nicht wiederholen], St. Petersburg und Moskau, 2017.  

Ramona Saavedra Santis: Im Auftrag der Erinnerung. Antonina Nikiforova und das Ravensbrück-Gedächtnis (Forschungsbeiträge und Materialien der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten Bd. 9) Berlin 2013.