„Wir wurden dort ausgezogen, wir waren völlig nackt, na ja, und dort jagten sie uns durch die Stockwerke“
Arabella Djatlowa im Gespräch mit dem Freundeskreis der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Hamburg, 2002. Foto: Katharina Hertz-Eichenrode. Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.
Arabella Eduardowna Djatlowa (geb. 1926)* war eine sowjetische Zwangsarbeiterin.
Arabella Djatlowa wurde in Leningrad (heute St. Petersburg, Russland) geboren. Ihr Vater war einer der lettischen Schützen, die in der Sowjetunion für die Unterstützung der Bolschewiki während des Bürgerkriegs berühmt waren. Im Jahr 1938 wurde er aufgrund erfundener Anschuldigungen verhaftet und vom NKWD erschossen. Arabella, ihre Mutter und ihr Bruder wurden als „Familienmitglieder eines Heimatverräters“ in die Stadt Saporischschja (Ukraine) geschickt und ließen sich auf der Insel Chortyzja nieder, wo sie den Beginn des Zweiten Weltkriegs erlebten.
Im Oktober 1941 begann die deutsche Besatzung von Saporischschja. Arabella geriet bald in eine Razzia, aber es gelang ihr zunächst, der Festnahme zu entkommen. Im August 1943 erhielt sie eine Vorladung mit der Aufforderung, in einer Sammelstelle zu erscheinen, um zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschickt zu werden. Arabella folgte der Aufforderung, sie erklärte es später wie folgt:
„Man kann [von der Insel] nirgendwohin weglaufen, überall ist Wasser.“
Auf dem Weg nach Deutschland hofften alle im Waggon, dass sie von belarusischen Partisanen befreit würden, alle waren bereit zu fliehen, aber es ergab sich keine gute Gelegenheit. Auf dem Weg nach Deutschlang hielt der Zug Lwiw (Ukraine), um die zukünftigen Zwangsarbeiter:innen zu desinfizieren. So erinnert sich Arabella an diesen Vorgang:
"...wir hatten dort eine demütigende Prozedur. Wir wurden dort ausgezogen, wir waren völlig nackt, na ja, und dort jagten sie uns durch die Stockwerke. (...) Zuerst öffneten wir alle unsere Koffer, sie sollten angeblich hier wärmebehandelt werden, zur Desinfektion. Dann mussten wir auch dahin, das Bad dort war so kalt. Dann waren noch irgendwelche Ärzte. Wir waren alle nackt, junge Mädchen."
In Deutschland wurde die junge Frau nach Hamburg-Wandsbek in eine kleine Fabrik zur Sortierung von Wertstoffen, Müll und zur Beseitigung von Trümmern nach Bombenangriffen geschickt. Dort arbeitete sie in einer Baubrigade und wohnte in einer Baracke mit vergitterten Fenstern und Stacheldraht rundherum. Einen typischen Tagesablauf beschreibt Arabella wie folgt:
„Hier weckte uns Martha [die Aufseherin]. Sie öffnete uns [sie öffnete die über Nacht geschlossene Baracke]. Dann haben wir uns sofort hier gewaschen und angezogen. Sie brachten uns dieses Brot, das dort in Scheiben geschnitten war, zwanzig Portionen. Eine Kanne Kaffee, so schwarz, aufgebrüht ohne Zucker, ohne alles. Wir essen unser Stückchen und gehen zur Arbeit. (…) Wir arbeiteten natürlich so intensiv, weil ich die ganze Zeit zum Beispiel mit dem Chef arbeitete. Ich konnte dort nichts unter seinen Augen pfuschen. Er stand hier die ganze Zeit selbst auf diesem Gerüst, er zog eine Mauer hoch, und wenn ich dort etwas mischte, brachte ich ihm Ziegelsteine. Ich arbeitete so die ganze Zeit, ich setzte mich nicht hin. (…) Mittags ruhten wir uns dort etwas aus, vielleicht eine halbe Stunde. Sie brachten uns so ein Mittagessen aus der Küche, und dann schenkten wir es uns alles selbst ein. Und danach arbeiteten wir weiter.“
Das schwerste in Deutschland war für Arabella der Hunger. Zwangsarbeiter in der Fabrik erhielten praktisch kein Gehalt, laut Arabella erhielten sie sonntags nur drei Marken, die aufgrund des Kartensystems nicht für Brot ausgegeben werden konnten. Nach ihren Erinnerungen teilten die deutschen Frauen manchmal ihre restlichen Lebensmittelmarken mit den „Ostarbeiterinnen“, was jedoch das Ernährungsproblem nicht löste. Der Hunger zwang sie zu schweren Gewissensentscheidungen und zum Diebstahl. Vom Essen träumte sie die ganze Zeit:
"Ach, ich wollte nur essen. Ich wollte so sehr essen, ich saß dort auf Ziegeln [bei den Aufräumarbeiten von Trümmern nach Bombardierungen], ich sage ja, ich saß da, das ist kein Scherz, ernsthaft, ich dachte wirklich, dass ich eines Tages Brot [in den Ruinen] ausgraben würde, weil alles plötzlich bombardiert wurde, so dass man nicht wissen konnte, was sich findet. Das war überhaupt kein Scherz, ich hatte so einen Traum, dass ich irgendwo etwas ausgraben könnte. Ich wollte einfach nur essen."
Trotz der scheinbar allgegenwärtigen Aufsicht durch die Deutschen und der Androhung von Konzentrationslagern gab es unter den Zwangsarbeiter:innen einen Schwarzmarkt:
„Einmal kam ein Waggon zu uns [während der Arbeitsschicht, um den Inhalt in der Fabrik zu sortieren], und mehrere Säcke kamen mit diesen italienischen Wickelgamaschen. (…) Und wir haben diesen Sack schnell irgendwo im Speicher versteckt. Und dann holten wir sie alle und verteilten sie dort an die Russen, na ja, etwas tauschten wir dort auch ein, gegen ein Stück Brot etwa.“
Hamburg wurde regelmäßig von alliierten Truppen bombardiert, so dass Luftangriffe einen besonderen Platz in den Erinnerungen der Zwangsarbeiter:innen einnehmen. Die nationalsozialistische rassistische Hierarchie durchdrang den Alltag bis in kleinste Details, einschließlich der Platzverteilung in Luftschutzbunkern. Arabella erzählt:
„Wenn wir nachts einen Alarm hatten, bedeutete das, dass wir uns alle dort versammelten, wir nahmen so eine dünne Decke, einen Mantel, irgendein Täschchen auf die Schulter und gingen dort zum Bunker. Der Bunker dort bestand wohl ungefähr aus fünf Stockwerken und ging in die Tiefe. Ich weiß noch, wir gingen dort hinunter, dort gab es so eine große Halle für ausländische Arbeiterinnen. (…) Dort gab es ein italienisches Lager, da waren Kriegsgefangene, aber sie gingen ohne Bewachung. (…) Diese italienischen Jungs gingen dorthin und wir waren dort. Und dort saßen wir manchmal bis zum Morgen. Die Deutschen saßen am selben Ort, aber sie hatten andere [Räume], es gab sehr viele Räume dort.“
Trotz der harten und kräftezehrenden Arbeit hatten die jungen Frauen manchmal Freizeit. Arabella erinnerte sich, wie sie sich an Winterabenden am Ofen in der Baracke versammelten, Lieder sangen und tanzten. Überraschenderweise gab es in ihrem Lager sowohl eine Mundharmonika als auch eine Balalaika. Im Sommer trafen sich die Zwangsarbeiterinnen mit sowjetischen Kriegsgefangenen aus einem anderen Lager, obwohl für Spaziergänge nur drei Stunden vorgesehen waren. Während der Spaziergänge entfernten die Frauen ihr „OST“-Abzeichen und versuchten, sich unter die Menge zu mischen:
"Manchmal konnten wir uns sogar einigermaßen anziehen, Haare machen und dieses ‚OST′ entfernen. (...) Wenn dich ein Polizist erwischt und du ohne ‚OST′ bist, konnten sie dich fortschaffen. Nun, wir riskierten es. Ohne ‚OST′ konnte man in die Straßenbahn steigen oder so, vielleicht sogar auf irgendein Dampfschiffchen. Aber es war riskant ... Nun, normalerweise, wenn die Deutschen Zivilisten dort umherliefen, ließen sie dich in Ruhe."
Arabella erinnerte sich, dass sie Angst hatten, von Rotarmisten befreit zu werden, ihnen ging der Ruf als Vergewaltiger voraus. Doch Hamburg wurde im Mai 1945 von britischen Truppen befreit. Bald darauf begannen viele freigelassene Zwangsarbeiter:innen und Kriegsgefangene zu plündern, wobei einige Gerüchten zufolge sogar an Alkoholvergiftung starben. Gestohlen wurde nicht nur in unbeaufsichtigten Häusern und Fabriken, sondern auch direkt bei den Deutschen:
„Dort waren doch viele Russen und Ukrainer. Dort waren Kriegsgefangene. (…) Hier kam es zu solchen Fällen, dass eine Deutsche zum Beispiel mit dem Fahrrad unterwegs war und ihr gesagt wurde: ‚Steig ab!′ Sie stieg ab und gab das Fahrrad ab. Es gab solche Fälle, es war natürlich unangenehm, aber so war es.“
Ein paar Monate später wurden die Frau und ihre Lagerkameradinnen in die sowjetische Besatzungszone Deutschlands überführt, wo sie von SMERSH verhört und überprüft wurden. Nach ihrer Rückkehr nach Saporischschja wurde Arabella wiederholt zum Verhör durch sowjetische Innenbehörden vorgeladen, wo sie neuen Demütigungen und Beleidigungen ausgesetzt war:
„Als ich ankam, war irgendetwas mit meiner Hand, eine Art Ekzem, meine Hand war verbunden. Und als ich zum NKWD kam, war da auch ein Mann, ebenfalls aus Deutschland, der etwas am Bein hatte, er kam am Stock. Dieser Oberst kam heraus und sagte: ‚Warum albern Sie hier herum? Los, mach deine Hand frei, und los, wirf den Stock weg! Wenn du reinkommst, will ich nichts davon sehen.‘ Und er nahm den Verband von der Hand ab, sie war mit Blasen bedeckt, also dann [warf er] den Stock [weg und] hinkte, so ohne Stock. [Der NKWD-Mitarbeiter] sagte: ‚Hör auf mit dem Blödsinn.′ Das war die Haltung.“
Zu Hause traf Arabella auf ihre Mutter, die vom Tod ihres Sohnes an der Front gebrochen war. Die Baracke, in der sie gelebt hatten, war während der deutschen Besatzung niedergebrannt. In der Folge wurde das Mädchen als Repatriantin gezwungen, bei der Trümmerbeseitigung mitzuarbeiten. Darüber hinaus durfte sie bis zum Abschluss der Überprüfungen durch sowjetische Innenbehörden ihren Wohnsitz nicht verlassen. Wie alle Heimkehrer:innen erhielt die junge Frau einen Pass erst nach Abschluss der Überprüfungen, die entgegen allen Vorschriften ein Jahr lang dauerten. Nachdem sie ihren Pass im Juli 1946 erhalten hatte, zog sie sofort nach Leningrad. Dort absolvierte sie eine Fachschule und arbeitete als technische Zeichnerin in einer Fabrik. Die Diskriminierung ehemaliger Zwangsarbeiter:innen in der Sowjetunion hat Arabellas Leben stark geprägt:
"Ich war 20 Jahre alt, als ich nach Petersburg kam, und dort hatten wir früher solche Personalfragebögen ausgefüllt, wissen Sie, es mussten fünf Blätter ausgefüllt werden. Warst du im Ausland, warst du unter [deutscher] Besatzung, wurdest du oder jemand [in der Familie] verhaftet. Bei mir traf alles zu. Ich hatte die Besatzung erlebt, mein Vater wurde nach Artikel 58 verhaftet. Ich war in Deutschland gewesen. Mit einem solchen Personalfragebogen ist es sehr schwierig. (...) Wie lange habe ich? Ich habe 40 Jahre lang gearbeitet, und bis 1956, als dieser Stalin starb, war ich dort ganz, wissen Sie, so schweigsam, damit ich weniger wahrgenommen wurde. Bei der Einstellung in der Fabrik, sagte ich nicht, dass ich in Deutschland war, und über meinen Vater sagte ich, dass er gestorben ist. Also hatte ich die ganze Zeit über in meinem Kopf, dass das rauskommen würde, nicht wahr? In diesem Zustand befandst du dich die ganze Zeit, (...) Du warst immer extrem nervös."
Die ehemalige Zwangsarbeiterin hat bewusst nicht geheiratet und keine Familie gegründet. Sie erklärt ihre Wahl so:
„Ich habe nie einen so starken Menschen getroffen, der mich, wissen Sie, wirklich voll und ganz unterstützen könnte. Wenn ich irgendeinen [Mann] kennenlernt hätte, könnte ich seine Karriere ruinieren. Derjenige könnte durch mich zu Schaden kommen. (…) Deshalb hat sich mein Leben nicht so entwickelt.“
2002 besuchte Arabella Hamburg auf Einladung des „Freundeskreises der KZ-Gedenkstätte Neuengamme“ und des Landesparlaments. Während des Besuchs teilte sie ihre Erinnerungen in einem mehrstündigen Interview mit. Im Jahr 2005 erhielt Arabella Eduardowna eine Entschädigung von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“.
* Das Todesdatum ist unbekannt.

Verfasserin: Evelina Rudenko
Quelle:
Interview aus dem Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.