"Ich dachte, mein ganzes Leben wäre vorbei.“
Taissija Kulwanowskaja, Standbild aus einem Videointerview 2002, Hannover, Archiv Gedenkstätte Bergen-Belsen (GBBA).
Taissija Leontjewna Kulwanowskaja (geb. 1926) war eine sowjetische Zwangsarbeiterin und Konzentrationslager-Gefangene.
Taissija Kulwanowskaja (geb. Labkowskaja) wurde 1926 in Minsk (Belarus) geboren. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter, zog ihr Vater, der Tischler und Zimmermann war, die acht Kinder alleine groß.
Im Juni 1941, als die deutschen Truppen die Sowjetunion angriffen, war Taissija nicht älter als 15 Jahre alt und Schülerin. Vier ihrer fünf Brüder gingen an die Front. Die ältere Schwester wurde zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Ihr Vater und ihr Bruder wurden bei der deutschen Besatzungsverwaltung angezeigt und verhaftet. Taissija ist sich sicher, dass ihre Angehörigen keine Verbindung zum Partisanenuntergrund und, wie sie selbst sagt, „zur Politik“ hatten. Dennoch starben beide:
„Soweit wir wissen, wurden sie dort [im Konzentrationslager] in die Gaskammer geschickt. Dann wurden [die Leichen] in die Grube geworfen und zugeschüttet. Mit Panzern ebneten sie die Grube ein.“
Zusammen mit ihrer jüngeren Schwester floh Taissija aus Minsk in ein nahegelegenes Dorf. Sie wurde verhaftet, als sie eines Tages in die Stadt fuhr, um Salz zu holen und auf einen Hilfspolizisten in Zivil stieß:
„… ich habe etwas gefragt und da öffnete sich sein Mantel, da sah ich: Polizei. Ich rannte weg und er hinterher. Und er schlug mich mehrmals mit einem Revolver hier [auf den Kopf], und ich fiel um.“
Beim Verhör schwieg sie und wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie wurde brutal geschlagen und in den Keller geworfen:
„… von den Schlägen war ich völlig angeschwollen, der ganze Körper war schwarz. Ich rieb den Körper, damit er nicht eiterte.“
In Minsk wurde Taissija mehrmals von einem Gefängnis ins andere verlegt. Im Frühjahr 1943 landete sie im Alter von 17 Jahren im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau (heute bei Oświęcim, Polen). Sie erinnert sich, wie ihr die Haare abgeschnitten wurden:
„Und ich hatte so tolle Haare! Sie wurden mir wie bei einem Jungen geschnitten. Ich bekam einen Winkel, ein rotes Dreieck und sie tätowierten mir eine Nummer ein. Ich fragte, wird es für immer bleiben? (…)
Ich wartete die ganze Zeit darauf, dass ich erschossen werde. Ich wusste nicht, wohin sie uns gebracht hatten. (…) Sie sagten, dass niemand von hier, aus diesen Lagern wegkäme. Ich dachte, mein ganzes Leben wäre vorbei.“
Die erste Zeit im Lager war Taissija krank, sie hatte nicht einmal Kraft, um einen Löffel zu halten. Als sie sich allmählich erholte, landete sie in einem Arbeitskommando junger Frauen auf den Feldern. Sie gruben den Boden um und pflanzten Gemüse an. Im Winter froren die geschwächten Gefangenen sehr. Taissija erinnert sich wie sie eines Tages warme Pullover erhielten. Später begriff sie, dass es sich um die Kleidung der im Lager vernichteten Juden handelte.
Im Lager lernte Taissija religiöse Polinnen kennen und freundete sich mit ihnen an. Sie brachten ihr katholische Gebete bei und erzählten ihr vom Osterfest; mit ihnen feierte sie es zum ersten Mal:
„Im Lager habe ich Gott in meiner Seele angenommen. Ich wusste nicht, wie man betet, das lernte ich später. (…) Wir trafen uns zu dritt [mit den polnischen Gefangenen]. Sie hatten etwas Brot aufgespart. Und wir aßen Brot und feierten Ostern.“
In einer anderen Erinnerung beschreibt Taissija, wie sie die Muttergottes zum ersten Mal in einem Traum sah:
„Vielleicht sollte ich es nicht erzählen? Die Muttergottes erschien mir. Ich rief sie auf Polnisch ‚Najświętsza Maria panna [heilige Jungfrau Maria], hilf mir durch deine Worte. (…)‘ Und sie kam, im schwarzen Kleid bis zum Boden. Und so schön, so schön! Und sie trug mir auf, alles zu ertragen.“
Mit dem Näherrücken der Roten Armee wurden die Gefangenen auf einen Todesmarsch ins Konzentrationslager Bergen-Belsen (Niedersachsen) geschickt. Taissija erinnert sich, dass sie sich hier freier fühlten. Zumindest konnten sie sich im Lager bewegen. Dennoch ging es ihr körperlich schlecht:
„Ich wollte unbedingt Sauerkraut! Ich ging in den Keller, wo das Gemüse lag. Und die Leute nahmen immer etwas. Ich ging zur Baracke und stürzte. Alle liefen auf mir herum, hin und her, und ich lag da.“
In Bergen-Belsen brach eine Typhusepidemie aus und Taissija erkrankte schwer. Als das Lager von britischen Truppen befreit wurde, wurde ein Krankenhaus für Typhus-Patienten direkt im Lager eingerichtet:
„Sie überschütteten uns mit so einem Pulver. Durch so eine dicke Schicht wurden alle Keime abgetötet.“
Nach ihrer Genesung arbeitete Taissija als Sanitäterin im britischen Krankenhaus, das sich in ehemaligen Wehrmachtskasernen befand und kümmerte sich dort um sowjetische Gefangene:
„Ich wischte den Boden und wusch auch den Kranken ihre Füße. Wir machten alles, fütterten sie auch. Wir passten auf sie auf. Ich war damals so dünn. Die Köche brachten mir das Beste, vom Allerfeinsten: ͵Iss. Du bist so dünn!‘“
Um KZ-Häftlinge zu systematisieren und zu identifizieren, wurde ihre Lagerkleidung mit einem Stoffaufnäher, einem sog. „Winkel“, oft in Form eines umgedrehten Dreiecks versehen. Dieser hatte, je nach Eingruppierung der Häftlinge, unterschiedliche Farben.
Jahre später bedauerte Taissija, dass sie nicht in Deutschland geblieben war:
„Die Leute gehen, die Deutschen gehen. Schwarze Menschen gehen mit weißen Handschuhen herum. Das ganze Volk ist so munter und gut. Und ich hatte die Idee, nach meiner Befreiung zu bleiben, wenn mich jemand aufgenommen hätte. Aber ich hatte Angst.“
Nach Befragungen und Kontrollen in der Filtrationsstelle in Königsberg (heute Kaliningrad, Russland) kehrte Taissija nach Minsk zurück. Ihre Schwestern erkannten sie nicht, weil sie sich so sehr veränderte und Gewicht verlor. Ihre Brüder waren an der Front gefallen.
Taissija träumte davon, weiter zu lernen und Ärztin zu werden, aber sie musste Geld verdienen. Sie schaffte es, eine Konditorlehre zu absolvieren und in einer Konditorei zu arbeiten.
1948 heiratete Taissija. Sie verschwieg ihrem Mann, dass sie im Konzentrationslager gewesen war. Ihr zufolge entpuppte er sich als ein „hohler Mensch“, der an Alkoholabhängigkeit litt und früh verstarb. Taissija überlebte auch ihren einzigen Sohn, der an einem Schlaganfall starb. Sie hat eine Enkelin und einen Urenkel. Im Jahr 2002 lebte Taissija in Minsk und fasste im Interview mit der Gedenkstätte Bergen-Belsen ihre Erlebnisse aus den Kriegsjahren zusammen:
„Ich erinnere mich an das Böse. Aber jetzt habe ich nichts mehr gegen die Deutschen. Ich habe ihnen alles vergeben. Es war Krieg und das Volk wollte keinen Krieg, weder das Eure noch das Unsrige. Und ich wünsche niemandem etwas Böses. Ich bat Gott: ͵Vergib meine Sünden!‘ Und ich vergebe allen Menschen, was mit mir passiert ist. Alles ist vorbei, und das Leben ist zu Ende. Ich nannte es einmal ͵mein ziellos gelebtes Leben‘.“
* Die genauen Lebensjahre von Taissija Kulwanowskaja sind unbekannt.
Verfasserin: Anna Bulgakova
Quellen: Die Biographie entstand auf der Grundlage eines Interviews mit der Gedenkstätte Bergen-Belsen in Hannover 2002.