„Ich weiß nicht, wie ich überlebt habe.“
Jakow Nepotschatow, Standbild aus Videointerview, Archiv der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora.
Jakow Michajlowitsch Nepotschatow (1926–2015) war ein sowjetischer Zwangsarbeiter und Konzentrationslager-Gefangener.
Geboren am 3. Mai 1926 in der Ukraine im Dorf Dmytriwka (Gebiet Charkiw, Ukraine) in einer Bauernfamilie. Im Jahr 1933 zog die Familie in das benachbarte Dorf Krasnopawliwka wo Jakow 1934 eingeschult wurde.
Im Sommer 1941 hatte Jakow sieben Klassen abgeschlossen und war 15 Jahre alt. Das Gebiet Charkiw wurde 1942 zum Ort heftiger Kämpfe zwischen der sowjetischen und der deutschen Armee, und Krasnopawliwka wechselte zweimal den Besitzer. Während der Kämpfe halfen Jakow und drei seiner Freunde den Rotarmisten, Telefonkabel zu ziehen. Als die Rote Armee schließlich vollständig eingekesselt war, überredeten die Soldaten die Jugendlichen, nach Hause zu gehen; aufgrund ihres Alters und ihrer zivilen Kleidung wurden sie weniger beachtet. Sie gelangten nach Krasnopawliwka, aber die deutsche Polizei verhaftete sie trotzdem.
Jakow wurde zur Zwangsarbeit in ein Dorf in der Nähe von Halle (Sachsen-Anhalt,) gebracht. Dort freundete er sich mit Iwan Alnikow, einem weiteren minderjährigen sog. “Ostarbeiter” an, mit dem sie beschlossen zu fliehen. Die jungen Männer bewegten sich nur nachts und landeten schließlich in einem Dorf in der Nähe von Mansfeld im Südharz. Hier wurden sie von der deutschen Polizei verhaftet, und die örtlichen Behörden zwangen sie sofort zur Feldarbeit; sie mussten Gemüse anbauen. Jakow und Iwan flohen erneut, wurden jedoch schnell gefasst und dieses Mal in das Gefängnis von Eisleben (heute Lutherstadt Eisleben, Sachsen-Anhalt) geschickt, dann in das Gefängnis von Halle und schließlich in das Konzentrationslager Buchenwald (Thüringen), wo sie am 7. November 1942 ankamen. Jakow war zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre alt.
„Häftlings-Personal-Karte“ von Jakow Nepotschatow, 1942, Arolsen Archives.
Im Buchenwald wurden die jungen Freunde von den Mitgliedern des Häftlingswiderstands bemerkt. Dank ihrer Bemühungen wurde Iwan in einen Schweinestall versetzt, und Jakow wurde in ein Schreinerkommando aufgenommen, in dem er Spielzeug herstellte. Beide Arbeiten galten im Lager als relativ gut, obwohl die Häftlinge sehr schlecht ernährt wurden. Jakow hinterließ eine Erinnerung an seltene Anzeichen von Mitgefühl seitens des Wachpersonals im Lager:
„Ich habe auch gute Menschen in Deutschland gesehen. Es gab sogar so einen Fall. Sogar in Buchenwald warf mir ein SS-Mann ein halbes Brot zu. Ich konnte es nicht glauben. Verstehen Sie? Ein SS-Mann warf mir in Buchenwald im Jahr 1942 ein halbes Brot zu. Ich habe es gegessen, und dann war ich zwei Wochen krank. Ich habe mich überfressen. Ich weiß nicht, wie ich überlebt habe.“
Auch das geistige Leben im Lager kam nicht zum Erliegen. Die gebildeteren Häftlinge erzählten oft Geschichten oder rezitierten aus dem Gedächtnis gelesene Bücher. Von Sherlock Holmes hörte Jakow erstmals in Buchenwald von älteren Häftlingen. Seine Erinnerungen an die Schönheit des Ettersberg und seiner Umgebung stehen in einem ungewöhnlichen Kontrast zu seinen sonstigen Erfahrungen:
„Was noch? Ich interessiere mich für Fotografie. Seit 1934 habe ich als kleiner Junge angefangen zu fotografieren. Nun ja, nur der Krieg hat das alles… Selbst in Buchenwald war ich – da war so eine Sonne, wenn man von den Hügeln schaut, hier Wolken, dort die Sonne. Lebendig! Ach, wenn ich nur eine Kamera gehabt hätte, jetzt würde ich solch eine Schönheit fotografieren!“
Im September 1943 wurde Jakow in das gerade erst errichtete Außenlager Dora (Thüringen) verlegt. Die ersten Lagerinsassen räumten die Stollen für den Bau von Werkstätten und unterirdischen Unterkünften aus; sie schliefen direkt auf den Steinen. Jakow wurde als Schreiner in ein Kommando aufgenommen, das vierstöckige Pritschen baute. Jede Etage dieser vierstöckigen Pritschen diente als Schlafplatz für die Gefangenen. Über diese Pritschen erinnerte sich Jakow:
"Und wer oben schlief, hielt nicht länger als zwei Wochen durch. Warum? Weil es trocken und hell war, wenn wir schlafen gingen, aber wenn wir morgens aufwachten gab es Nebel. Dort atmeten Tausende Menschen, und der Stein war kalt, und dieses Kondensat tropfte von der Decke auf diese Leute, trocknen konnte man nirgends. Wir konnten nicht an die Sonne gehen. Wir waren im Stollen."
Anfang 1944 begann man, die Häftlinge nach draußen zu verlegen (dieser Prozess dauerte ein halbes Jahr). Jakows Team begann mit dem Bau von Baracken. Jakow erinnerte sich daran, dass das Team gut war und weder der Kapo noch SS-Wächter sie jemals schlugen. Aber die Rückkehr an die Oberfläche brachte nicht nur Erleichterung, sondern auch Probleme. Jakow verlor sein Augenlicht, weil er sich zu lange unter der Erde aufhielt. Ein polnischer Arzt unter den Gefangenen verschrieb ihm eine spezielle Salbe, und ein Bekannter aus der Tschechoslowakei bat seine Angehörigen, dunkle Brillen zu schicken. Mit Hilfe der Mitgefangenen gelang es Jakow, sein Augenlicht wiederherzustellen. Jedoch hatte er sein Leben lang Augenprobleme.
In Jakows Erinnerungen gibt es viele Zeugnisse von Mitgefühl: von deutschen Soldaten, die die Gefangenen mit Kartoffeln bewirteten, bis hin zu amerikanischen und britischen Kriegsgefangenen, die während des Marsches Lebensmittel teilten.
Im Lager gab es auch Unterhaltung. Nepotschatow erinnerte sich an ein Fußballspiel zwischen italienischen und sowjetischen Gefangenen. Anfang 1945 organisierten sowjetische Gefangene und deutsche Kapos einen Boxkampf. Jedoch war die Teilnahme an sportlichen Wettkämpfen und generell die Möglichkeit, bei „Unterhaltungsveranstaltungen“ mitzumachen, eine Form von Privileg, zu dem längst nicht alle Gefangenen Zugang hatten.
Im März 1945 wurde Jakow Nepotschatow zurück ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht; bald darauf wurde er von amerikanischen Soldaten befreit. Danach wurde er sofort in die Rote Armee aufgenommen. Aber bald geriet er ins Visier der sowjetischen Behörden und wurde in ein Filtrationslager in Stalinogorsk (heute Nowomoskowsk, Russland) geschickt, wo er weitere vier Jahre in einer Mine arbeitete.
Nach seiner Befreiung aus dem Lager fand er Arbeit als Schreiner. 1964 wurde er Direktor einer Möbelfabrik in Puschtschino (Russland). Die Ärzte warnten, dass sich seine Gesundheit nicht für eine so verantwortungsvolle Position eignete und Jakow wurde zum Technologen. Im Jahr 1951 heiratete er. Er hatte zwei Kinder. Am Ende seines Lebens reiste er nach Deutschland zu Gedenkveranstaltungen. Er interessierte sich für Fotografie. Jakow Michajlowitsch Nepotschatow starb 2015 in Puschtschino.
Autor: Ivan Schemanov
Quellen:
Dokumente von Jakow Nepotschatow im Archiv der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora.
Video-Interview von Jakow Nepotschatow aus dem Archiv der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora.