„Ich habe sie so sehr vergessen, dass ich mich weder an ihr Gesicht noch an ihren Namen erinnere, ich weiß nur, dass es sie gab“.
Porträt von Stella Nikiforowa (Kugelmann), 1950er Jahre, Fotograf unbekannt, Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück.
Stella Wladimirowna Nikiforowa (geb. 1939) war eine Konzentrationslager-Gefangene.
Sie wurde 1939 in Antwerpen (Belgien) in der Familie von Louis Kugelmann-Griez und Rosa Klionsky geboren. Nach der Geburt des Mädchens kam ihre Großmutter, Rosas Mutter, aus London (Großbritannien) zu ihnen. Als die deutsche Besatzung Belgiens begann, beschloss die ganze Familie 1940, nach Barcelona (Spanien) in die Heimat von Louis zu fliehen. Da Stellas Großmutter britische Staatsbürgerin war, wurde sie nicht über die französische Grenze gelassen. Die ganze Familie musste nach Antwerpen zurückkehren.
Stellas Großmutter befand sich illegal im Land, deshalb durfte sie das Haus nicht verlassen. Stella erinnert sich, dass ihre Eltern ihr verbaten, ihre Großmutter auch nur zu erwähnen:
„Wenn uns jemand besuchte, das weiß ich aus den Geschichten meines Vaters, wenn jemand an der Tür klingelte, musste sich die Großmutter im Schrank verstecken und solange dort bleiben, bis die Person wieder ging. Ich war noch sehr klein, mein Vater erzählte mir später, dass man mir sagte, ich soll nichts über Großmutter erzählen, dass es sie gibt. Er erzählte auch, dass ich mich strickt daran hielt, obwohl ich noch so klein war. Ich habe sie so sehr vergessen, dass ich mich weder an ihr Gesicht noch an ihren Namen erinnere, ich weiß nur, dass es sie gab.“
Die Großmutter starb 1943, und Stellas Eltern konnten sie aufgrund ihres illegalen Status nicht beerdigen. Kurz darauf wurde die Familie für vermeintliche Sabbotage verhaftet. Im Lager galten sie später als poltische Häftlinge. Der Moment der Verhaftung blieb so in Stella’s Erinnerung:
„Bis zum Mittagessen warteten wir auf Papa, er kam nicht. Danach ging ich mit meiner Mutter auf die Straße, um zu gucken, ob er kam. Da fuhr so ein dunkles Auto heran und uns wurde befohlen unsere Sachen zu packen und mitzukommen. (…) Das Auto fuhr heran, damals wusste ich es nicht, jetzt weiß ich es aber, zuerst war es ein Gefängnis und danach das Konzentrationslager Mecheln, zwischen Brüssel und Antwerpen.“
In Mecheln (Mechelen, Belgien) blieb die Familie nicht lange. Nach einiger Zeit wurden dort Männer von Frauen und Kindern getrennt. Stellas Vater wurde ins Konzentrationslager Buchenwald (Thüringen) deportiert. Stella kam mit ihrer Mutter ins Konzentrationslager Ravensbrück (Brandenburg). Sie beschrieb die Ankunft im Lager:
„Ich erinnere mich, wie ich und meine Mutter die Stufen [des Wagens] herunterstiegen und da Stand eine Gruppe von Soldaten in Grau mit Hunden, sie empfingen uns. Ich hatte große Angst und drückte mich an meine Mutter. Später, als wir schon gingen, schrie meine Mutter und fiel um, sie verlor das Bewusstsein. Sie war sehr krank. Ich dachte, sie wäre gestorben, habe geschrien und geweint. Jemand nahm meine Hand und streichelte mein Köpfchen. So näherten wir uns dem Tor. Dann wurden mir dort die Zöpfe abgeschnitten, und ich wurde mit einer stinkenden Flüssigkeit übergossen. So wurde ich zur Gefangenen von Ravensbrück.“
Stellas Kinderkleid, das sie als vierjähriges Kind kurz vor der Verhaftung trug. Ihr Vater, Louis Gustav Kugelmann, schenkte es ihr bei ihrem ersten Wiedersehen 1963, Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück.
Stellas Mutter war krank und wurde in eine Tuberkulose-Baracke eingewiesen. Nur ein Mal sah das Mädchen sie danach:
„Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen war. Ich weiß nur, dass eines Tages eine Frau mir sagt: ‚Willst du deine Mama sehen?‘ Ich hatte eine sehr starke Bindung an meine Mama, ich verbrachte die ganze Zeit nur mit meiner Mutter. Natürlich wollte ich das. Aber Kontakte zwischen den Baracken waren doch verboten. Diese Frau riskierte einiges. Sie nahm mich auf den Arm, trug mich zum Fenster, meine Mama saß am Fenster. Die Sonne ging bereits unter und sie hatte so flauschige Haare. Sie freute sich natürlich sehr, und ich war glücklich, sie zu sehen. Ich erinnere mich nicht, worüber wir sprachen, aber sie bereitete für mich solche Spielzeuge vor: ein Stück Folie und ein Zahnbürstchen.“
"Ich war glücklich meine Mutter zu sehen und ahnte nichts."
Im Juni 1944 starb Rosa Kugelman. In Stellas Erinnerung, nahm sie als kleines Mädchen diese Nachricht ruhig auf. Der Schrecken dessen wurde ihr erst einige Jahre später bewusst, als sie bereits in der Sowjetunion lebte:
„Ich ging in die erste Klasse. Es war um Silvester 1946, es gab einen geschmückten Tannenbaum. Es gab nichts, deshalb war der Schmuck aus Papier, aber für viele von uns war es die erste Silvesterfeier mit Tannenbaum. Wir tanzten und sangen. Der Winter 1946 war in Russland sehr kalt, im Saal brannte ein Kamin. Ich setzte mich hin und starrte auf das Feuer. Plötzlich verstand ich, dass meine Mutter genauso brannte, wie diese Holzscheite. Ich schrie aus voller Lunge. Die Erzieherin eilte herbei. Ich heulte und weinte, ich brachte kein Wort raus.“
"Diese Silvesterfeier war der schlimmste Tag meines Lebens, mir wurde klar, dass es meine Mama nie wieder geben wird. Davor verstand ich es nicht ganz, ich wusste es, verstand es aber nicht."
Während der Durchsuchungen versteckten die Insassinnen das Mädchen in ihren Baracken, denn in Ravensbrück gab es keine separate Kinderbaracke. Als dort eine Gruppe von Kindern aus dem Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau (heute Oświęcim, Polen) ankam, mischte sich Stella unter sie und fiel den Aufseherinnen nicht mehr so auf wie früher. Diese Kinder lebten zusammen mit Erwachsenen, genauso wie Stella. Wenn die Frauen zur Arbeit gingen, mussten sie still in oder vor den Baracken sitzen. Für die Kinder waren im Lager keine separaten Rationen vorgesehen. Stella erzählte, wie Erwachsene ihr immer wieder Essen zusteckten:
„Ich erinnere mich an diese wässrige Gemüsesuppe. Die konnte ich nicht essen, da war Sand drin. Ich erinnere mich sehr gut an Brot, es gab ein kleines Stück. Darin waren Sägespäne. In der Baracke stand ein Ofen, er wurde aus einem Metallfass gemacht; und ich klebte mein Stück daran, wie alle anderen und aß es. Aber ich hatte immer Hunger. Ich sah mich um, alle saßen und redeten. Ich riss ein fremdes Brotstück heimlich ab, kroch unters Bett, aß es dort. Ich wusste, dass ich etwas Schlechtes tat. Ich wartete darauf, dass ich nicht nur gescholten, sondern auch geschlagen werde. Aber niemand schlug mich, niemals. Wenn es ruhig blieb, kroch ich raus und manchmal riss ich ein zweites Stück ab und aß es.“
Stella wurde während eines Todesmarsches befreit. Die ehemalige Ravensbrücker Insassin Olimpiada Tscherkassowa, brachte sie und ein anderes Kind von Ravensbrück in ihre Heimat nach Brjansk (Russland). Beide Mädchen kamen dort in ein Waisenhaus, wo Stella ihre ganze Kindheit verbrachte. Es gab Familien, die sie adoptieren wollten, aber Stella lehnte dies ab, in der Hoffnung, dass ihr Vater sie finden würde.
Stellas Leben im Waisenhaus fiel auf die ersten schweren Nachkriegsjahre. Sie war sehr krank und verbrachte viel Zeit in Krankenhäusern. Ihr Gesundheitszustand wirkte sich auf ihre Schul- und Arbeitsergebnisse aus. Nach dem Schulabschluss begann sie ein Studium, musste es aber abbrechen, weil ihr Stipendium so knapp war, dass Stella wegen Unterernährung ins Krankenhaus eingewiesen wurde. Sie fing an zu arbeiten: zunächst in einer Textilfabrik, später in einem Heimatmuseum. Nach der Heirat konnte Stella eine medizinische Ausbildung abschließen und als Laborantin arbeiten.
Stella Kugelmann (Mitte) im Kinderheim in Brjansk, 1950er Jahre, Fotograf unbekannt, Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück.
Stella durfte nicht Medizin zu studieren, und schrieb sich stattdessen an der pädagogischen Fakultät ein. Sie erzählte über diese und andere Einschränkungen:
„Viele Fachrichtungen durfte ich einfach nicht belegen. Ich reichte drei Mal den Antrag zur Aufnahme im Komsomol ein. Ich kann nicht sagen, dass ich ausdrücklich abgelehnt wurde, aber es war immer spürbar. Ich dachte, dass es an mir lag. Vielleicht bin ich krank, oder mit mir stimmt was anderes nicht. Jetzt, wo ich andere ehemalige inhaftierte Kinder kenne, ist mir klar, dass es fast allen so ging. Dabei war ich im Unterricht immer hervorragend und arbeitete stets ehrenamtlich, sprich, es gab eigentlich nichts zu bemängeln.“
Stella bekam Probleme mit ihren Dokumenten. Als sie vierzehn Jahre alt wurde, sollte sie ihren ersten Pass bekommen. Sie erinnerte sich jedoch weder an ihren Nachnamen noch an ihren Geburtsort. Darauf dachte sie sich diese Daten einfach aus. Stella erinnerte sich nicht an den Namen ihres Vaters, bei der Wahl des Vatersnamens wurde ihr, ihren Worten nach, geholfen: Dann wird es Wladimir, wie Lenin. Sie wurde als Stella Wladimirowna, geboren am 1. Mai 1939 in Brjansk registriert. Außerdem erfasste der Pass die ethnische Zugehörigkeit. Die Beamtin sagte Stella, sie solle Russisch angeben. Der Polizist, der die Pässe austeilte, glaubte ihr nicht und verweigerte ihr die Ausgabe. Ihren Pass erhielt Stella erst, nachdem sie das Waisenhaus verließ. Aufgrund dieser falschen Angaben konnte sie später nicht nachweisen, dass Louis Kugelmann ihr Vater war.
Stella glaubte immer, dass ihr Vater am Leben ist. Sie hatte ungenügend Informationen, um sich an Suchorganisationen zu wenden. Deshalb suchte sie Kontakt zu ehemaligen Insassinnen von Ravensbrück, in der Hoffnung, über sie zu ihrem Vater zu gelangen. 1961 gab eine Frau aus der deutschen Gefangenendelegation Stella die Adresse der Belgierin Claire van den Boom, die Stellas Mutter kannte. Claire van den Boom half ihr, Kontakt zu ihrem Vater aufzunehmen, der in São Paulo (Brasilien) lebte. Stella traf ihn 1963 in Brasilien, zwanzig Jahre nach ihrer Verhaftung.
Stella blieb in Kontakt zu ehemaligen Ravensbrücker Insassinnen aus Belgien. Sie wurde mehrmals nach Belgien eingeladen. Dort gilt sie als Symbolfigur für alle Kinder, die in Konzentrationslagern gerettet wurden.
Antonina Nikiforowa und Stella Nikiforowa (Kugelmann), 1965. Fotograf unbekannt, Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück.
Auf der Suche nach ihrem Vater las Stella über Antonina Nikiforowa, eine Ravensbrücker Insassin, die in der Krankenbaracke arbeitete. Als Stella zur Behandlung nach Leningrad (heute St. Petersburg, Russland) reiste, trafen sich die beiden Frauen. Darauf lernte Stella den Sohn von Antonina kennen, den sie später heiratete.
Stella lebte 37 Jahre lang in der Familie von Antonina Nikiforowa, bis zu deren Tod im Jahr 2001. Diese Beziehung war sowohl für Stella als auch für Antonina wichtig: Die Erfahrung von Ravensbrück brachte sie näher. Antonina betrachtete das Erzählen über das Konzentrationslager als ihre Lebensaufgabe. Sowohl Stella als auch Antonina sprachen darüber oft mit Schüler:innen. Stella Nikiforowa ist Vorsitzende einer Organisation, welche die Interessen ehemaliger minderjähriger Gefangener von Konzentrationslagern vertritt.
Komsomol – Leninistischer-Kommunistischer Allunions-Jugendverband, Jugendorganisation unter Leitung der kommunistischen Partei der Sowjetunion für Jugendliche zwischen 14 – 28 Jahren.
Stella Nikiforowa spricht für das Internationale Ravensbrück-Komitee beim 73. Jahrestag der Befreiung des Frauen-KZ Ravensbrück 2018. Fotograf: Eberhard Schorr, Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück.
Verfasserinnen: Olga Bubnova und Liliia Zainetdinova
Quelle: Interview von Loretta Waltz mit Stella Nikiforowa (15.04.2000).