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„Plötzlich dachte ich: Wozu das ganze? Schließlich haben sie alle getötet, es ist niemand mehr übrig. Wohin soll ich gehen, wer hilft mir?“

Jakow Isaakowitsch Schepetinskij (1920–2020) war ein verfolgter Jude und sowjetischer Soldat. 

 

Jakow Schepetinskij wurde 1920 im damals polnischen Słonim (heute Slonim, Belarus) in einer jüdischen Familie geboren. Jakob hatte vier Brüder und eine Schwester. In den 1930er Jahren besuchte er ein privates jüdisches Gymnasium und begeisterte sich für Fußball. 1939 schloss er das Gymnasium ab und fing ein Studium in Lwów (heute Lwiw, Ukraine) an. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, als das damals polnische Slonim von sowjetischen Truppen besetzt wurde, kehrte Jakow auf Bitten seines Vaters nach Hause zurück, um der Familie zu helfen. In seiner Heimatstadt absolvierte er eine Ausbildung zum Buchhalter und wurde in die Kooperative „Jedinenije“ (rus. Vereinigung) zur Arbeit eingeteilt. Während der sowjetischen Besatzung lebte er bei seiner Tante. 

1941 übernahmen deutsche Truppen die Kontrolle über Słonim. Den Juden wurde befohlen, einen Davidstern auf der Kleidung zu tragen, und die Männer mussten in der Synagoge übernachten. Mitte August 1941 wurde in der Stadt ein Ghetto für Jüd:innen eingerichtet. Während seiner Zeit im Ghetto, schloss sich Jakob einer Untergrundorganisation an, die eine Flucht in die Wälder plante. Er arbeitete außerdem in einem Waffenlager, wo er Trophäenwaffen sortierte, und versorgte mit ihnen heimlich den Untergrund. Die Lebensbedingungen im Ghetto waren hart, von Juni – November 1941 starben dort etwa 10.000 Menschen an Hunger. Am 14. November 1941 wurden in Słonim mindestens 8.000 Juden erschossen, aber Jakob überlebte und entkam aus einem mit Leichen übersäten Erschießungsgraben: 

"Ich kroch auf einen Sandhügel, rollte mich auf der anderen Seite ab und rannte weg. Barfuß. Ich bin kein Mensch, sondern ein Vogel. Meine Füße berühren den Boden nicht. Als ich zurückblicke, ist der Sonnenuntergang noch zu sehen, die Stimmen sind nicht mehr zu hören, ich fliege weiter... Ich fiel hin. Ich liege auf der feuchten, kalten Erde. Durst, in der Faust halte ich feuchte Sumpferde, in den Mund damit, ich sauge daraus Feuchtigkeit, spucke die Erde aus, wiederhole das mehrmals. Plötzlich dachte ich: ‚Wozu das ganze? Schließlich haben sie alle getötet, es ist niemand mehr übrig. Wohin soll ich gehen, wer hilft mir? Schließlich bin ich von einem Meer aus Hass umgeben, selbst wer helfen will, kann es nicht. Er wird denunziert und an die Deutschen ausgeliefert. Warum können sich alle Völker im Unglück helfen und sich wehren, nur unser Volk, das auf der ganzen Welt verstreut ist, kann sich selbst nicht helfen, ist nicht in der Lage sich zu verteidigen. Diejenigen, die für ihre eigene Sache, für ihren eigenen Staat kämpften, hatten Recht.‘ Aber Denken konnte man lange, dabei geht die Zeit aus. Bis zum Morgengrauen dauert es nicht mehr lange. Ich beschloss, zurück ins Ghetto zu gehen. Erstens, um das Schicksal der Verwandten zu erfahren. Zweitens, ich konnte nirgendwo sonst hin."

Im Juni 1942, als das Ghetto von deutschen Truppen umzingelt wurde, fand die Familie Schepetinskij eine Zuflucht unter ihrem Haus. Jedoch wurde es in Brand gesetzt und die Großmutter von Jakow wurde von deutschen Militärs erschossen. In der Nacht nach dem Brand sammelten die Überlebenden Waffen und Nahrung und flüchteten aus dem Ghetto. Ein Teil von Jakows Familie konnte sich retten und schloss sich sowjetischen Partisanen an. Jakow wurde Maschinengewehrschütze. 

Im Oktober 1943 gelangte ihre Partisanengruppe in die Nähe des Dorfes Borki (Gebiet Mahiljou, Belarus). Jakows Mutter, seine minderjährigen Brüder, seine Cousine, seine Tante, sein Vater und sein Onkel starben bis dahin bei Kämpfen. Dennoch erinnert sich Jakow, dass der Partisanenverband „Sowetskaja Belorussija“ zusammen mit der jüdischen Bevölkerung der SS Widerstand leisten konnte. 1944, nach der Befreiung der belarusischen Gebiete durch sowjetische Truppen, wurde Jakow zur Roten Armee einberufen und beteiligte sich am weiteren Vormarsch nach Westen. 

1945, zu Ende des Krieges, wurde Jakow verwundet und in das zentrale Armeekrankenhaus nahe Brandenburg an der Havel (Brandenburg) eingewiesen. Nach seiner Genesung diente er bei den sowjetischen Besatzungstruppen in Ostdeutschland und arbeitete als Übersetzer in einem nicht näher festgestellten Gefängnis in Brandenburg an d. Havel.

Nach Kriegsende arbeitete Jakow in der operativen Abteilung des Innenministeriums. Im März 1946 nahm er an der Verhaftung und Vernehmung eines deutschen Offiziers teil. Während der Vernehmung fragte er ihn nach der Grausamkeit der deutschen Truppen gegenüber Juden. Die anschließende Antwort des Offiziers weckte in ihm unkontrollierbare Emotionen: 

"Hier unterbrach er mich und erklärte lehrmeisterhaft: ‚Sie haben nichts verstanden, diese Säuglinge sind die größte Gefahr für unsere arische Rasse. Es gibt solche, die sich äußerlich nicht von unseren Kindern unterscheiden, besonders Mädchen. Und wenn die Jungen noch nicht beschnitten wurden und wenn solch ein Kind irgendwie in unsere arische Familie gelangt, was haben wir dann zugelassen: wir haben unsere Rasse verschmutzt!!!‘ Bei seiner Erklärung habe ich meine Beherrschung verloren. Vor meinen Augen stand mein jüngerer Bruder, Uri. Meine Hand langte wie von selbst in die Schreibtischschublade, das kalte Metall der Pistole... und ein Schuss."

Sowjetische Ermittler nahmen Jakow nicht sofort fest und entließen ihn nach Hause. Einen Monat später bat ein Ermittler Jakow jedoch erneut bei einer weiteren Gefangenenvernehmung zu helfen. Bei seiner Ankunft wurde Jakow verhaftet und später in ein nicht näher festgestelltes Untersuchungsgefängnis in Potsdam (Brandenburg) verlegt. Die Untersuchung dauerte von April bis Oktober 1946, dabei wurde er wegen Spionage für britische Geheimdienste, Heimatverrats und Schmuggels angeklagt. Jakow wurde von sowjetischen Ermittlern geschlagen und immer wieder nachts verhört. Im Oktober 1946 wurde er zu zehn Jahren Haft in Arbeitsbesserungslagern verurteilt, dabei wurden ihm für fünf Jahre bestimmte Rechte aberkannt. 

Anfang Februar 1947 wurde Jakow in ein sowjetisches Lager transportiert. Sein Fluchtversuch aus dem Zug blieb erfolglos. Anfang März 1947 kam er im Lager des GULAG-Systems im Ural-Gebirge (Russland) an. Bei der Gründung des Staates Israel beantragte Jakob 1948, ihn angesichts seiner militärischen Vergangenheit nach Israel zu schicken, um für die Freiheit des jungen Staates zu kämpfen. In Reaktion darauf wurde er nach Laksija (nenzisch für „Tal der Tränen“), dem zentralen Strafpunkt seines Lagers, strafversetzt. 1953 wurde Jakob zum Forstmeister ernannt. Aufgrund guter Arbeitsleistungen wurde seine Strafzeit um 16 Monate verkürzt. 

Jakow kam 1954 frei und wählte Qaraghandy (Kasachstan) als Verbannungsort aus. Nach seiner Rehabilitierung 1956 ging er nach Riga (Lettland). Während dieser Reise besuchte er seine Heimatstadt Slonim und Massengräber von Zivilisten und nahm auch Knochen von Toten aus einem Erschießungsgraben mit. 

1966 zog Jakow nach Israel. Als Zeuge nahm er an Prozessen gegen nationalsozialistische Verbrecher teil. 1986 ging er in Rente und begann, Memoiren zu schreiben. 

Jakow Isaakowitsch Schepetinskij starb am 15. September 2020. 

Before
After
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Verfasser: Vasily Starostin

Quellen: Archiv des Sacharow-Zentrums.