„Und als wir befreit wurden, hatte ich keine Kraft, um mich zu freuen, oder auch nur zu reagieren.“
Portrait von Anastasija Gulej, vermutlich 2009, Gedenkstätte Bergen-Belsen, © Stiftung Niedersachsen Gedenkstätten.
Anastasija Gulej (geb. 1925) war eine sowjetische Zwangsarbeiterin und Konzentrationslager-Gefangene.
Anastasija Gulej (geborene Plyaschetschnik) wurde am 12. Dezember 1925 im Dorf Hrabariwka (Gebiet Poltawa, Ukraine) geboren. Später zog die Familie ins Dorf Bubniwschyna (Gebiet Tschernihiw, Ukraine). Anastasijas Vater war Lehrer für russische und ukrainische Sprache und Literatur und stellvertretender Leiter der Schule. Die wohlhabende Bauernfamilie ihrer Mutter wurde entkulakisiert. Als in der Ukraine der Holodomor von 1932-1933 begann, ging Anastasija gerade in die erste Klasse. An diese Zeit behielt sie schreckliche Erinnerungen, auch wegen des einsetzenden Kannibalismus:
„Es wurde alles gegessen… Gras, Unkraut aller Art. Wir waren in Gruppen unterwegs, alleine durften wir nicht gehen, weil viele hungrige Menschen herumliefen, und das war beängstigend.“
Im Juni 1941, noch bevor sie die Schule abschloss, fuhr das Mädchen nach Moskau, um sich an einer Hochschule einzuschreiben. Unterwegs erfuhr sie vom Ausbruch des Krieges und kehrte zurück. Im September 1941 wurde das Dorf Bubniwschyna von deutschen Truppen besetzt, worauf die Mobilisierung zur Zwangsarbeit nach Deutschland begann. Anastasia wollte nicht weggehen, aber nach Druck und Drohungen vom Dorfvorsteher willigte sie ein.
Sie wurden in das Dorf Pyrjatyno (heute Stadt Pyrjatyn, Region Poltawa, Ukraine) gebracht. Anastasija unternahm dort ihre erste Flucht, jedoch ohne Erfolg. Aber sie schwor sich, dass sie bei der ersten Gelegenheit fliehen würde. Aus Pyrjatino wurde sie mit anderen nach Steken (heute Štěkeň, Tschechische Republik) transportiert. Anastasija sah ein Lager mit Baracken, das von Stacheldraht und Türmen umgeben war. Hierher kamen spezielle Anwerber, um Arbeitskräfte zu rekrutieren. Anastasija wurde zusammen mit einer Gruppe ukrainischer junger Frauen zum Bahnhof in Königshütte (heute Chorzów, Polen) geschickt. Hier entluden sie Hohlblocksteine aus Waggons und fertigten daraus Gerölluntergrund für Eisenbahnschwellen. Trotz strenger Sicherheitsvorkehrungen dachte Anastasia stets an Flucht. Für den Kriegsfeind zu arbeiten, und sei es auch nur als Zwangsarbeiterin, betrachtete sie als Verrat:
„Nun, die Bewacher beobachten uns natürlich. Wir warten dagegen auf die richtige Gelegenheit, um zu entkommen. Das konnte doch nicht sein! Drei Brüder sind an der Front, und ich bin hier. Wie konnte das angehen?“
Im Juni entluden sie zusammen mit einer Gruppe von Franzosen Waggons. Sturzregen setzte ein. Alle versteckten sich in einer Werkstatt beim Bahnhof. Anastasija beschreibt den Moment, als ihr die Flucht gelang:
"… wir stehen in dieser Werkstatt. Die Franzosen gruppierten sich im Kreis. Unter ihnen gab es so einen hübschen Burschen, etwa 16 Jahre alt, ein Engelsgesicht, wie gemalt! Die Franzosen umringten ihn und unsere Mädchen versuchen auch zu gucken. Die Bewacher steckten ihre Schnauzen dorthin. Und wir stießen uns gegenseitig an, dass wir rausgehen sollen."
Dank diesem Franzosen, der die Aufmerksamkeit der Arbeiter und der Wachen auf sich zog, gelang es fünf jungen Ukrainerinnen zu entkommen. Sie robbten unter den Waggons, lagen lange auf den Schienen, um die Konvois vorbeiziehen zu lassen. Schließlich gelang ihnen die Flucht vom Bahnhof Königshütte. Einheimische halfen Anastasija und ihren Freundinnen: Sie gaben ihnen zu Essen und zeigten ihnen den Weg. Insgesamt legten die jungen Frauen damals etwa 250 Kilometer zurück. Es gelang ihnen, die Weichsel zu überqueren. Doch in Rzeszów (Polen) gerieten sie in einen Hinterhalt, Flüchtige wurden dort abgefangen. Die Frauen wurden verhaftet und nach einem Monat ins Gefängnis in Tarnów (Polen) überführt. Von dort wurden sie in Waggons in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau (heute Oświęcim, Polen) überführt:
„Als wir uns Auschwitz näherten, sahen wir eine Reihe von Lichtern. Ich denke, es ist eine Art Fabrik. Ein Wachmann geht dicht an mir vorbei. Ich frage: ‚Was ist das?‘ [deutsch im Original] Er sagt: ‚Du wirst es schon sehen.‘ Er sagt nicht, was. (…) Dann fuhr der Zug ins Lager. In diesem Moment verstehst du nicht, wo du bist und wirst von so einer Angst gepackt. Du verstehst nicht, was mit dir los ist, vielleicht bist du in der Hölle oder so. Nachts führten sie uns in eine Baracke, (…) wir fragen: ‚Frauen, wo sind wir hier gelandet? Was ist das hier? Was machen sie mit den Leuten hier?‘ man sagte mir ‚das wirst du schon sehen.‘“
Die Frauen bekamen Lagernummern eintätowiert. Anastasija wurde zur Gefangenen mit der Nummer 61369. Sehr bald sahen sie, dass das Lager ein Krematorium hatte, wo die Leichen ermordeter Menschen regelmäßig verbrannt wurden:
„Tagsüber siehst du, wie diese Juden in Kolonnen zum Krematorium geführt werden, wie bei einer Demonstration. In Fünfergruppen. Mein Gott, was für ein Anblick?! Sie wissen doch nicht, wohin sie gehen. Sie denken, sie gehen in eine Fabrik oder eine Werkhalle, um zu arbeiten. Oh! Da geht ein Mädchen, das eine Puppe in den Händen hält und spielt…“
Die Frauen sollten einen Graben um das Lager ausheben. Trotz der Tatsache, dass jeglicher Widerstand mit großer Wahrscheinlichkeit schwer bestraft würde, weigerten sich die Frauen eines Morgens aus Protest gegen die kräftezehrende Arbeit rauszugehen:
„Kommandant Höss wurde herbeigeholt. Höss hieß er, Rudolf Höss. Er stürmte rein, ging über die obersten Holzpritschen und schoss mit der Pistole in die Decke. Wir stürmten blitzschnell aus der Baracke. Man ließ uns in einer Reihe antreten. Alles war voller Schlamm, Lehm, eine Sauerei. Wir mussten und hinknien und die Hände hochheben. Er kam und schlug jede Fünfte mit der Faust in die Brust. Jede Fünfte, wie ein Maschinengewehr.“
Anastasija verbrachte das ganze Jahr 1944 in Auschwitz-Birkenau. Im Januar 1945 wurden die Häftlinge in Kolonnen an einen unbekannten Ort geführt. Sie waren zwei Tage lang zu Fuß unterwegs. Wer stehen blieb und hinfiel wurde erschossen. Während des Marsches bekamen die Frauen die Kämpfe gegen die heranrückende Rote Armee um Krakau mit:
„Als man uns trieb, bekamen wir die Kampfhandlungen in der Nähe von Krakau mit. Unsere sowjetische Armee ging bei Krakau zum Angriff über. Kanonen, Geschosse, ein Feuerschein! Sie waren so nah, nur einen Steinwurf entfernt, aber sie haben uns weitergetrieben. Es war zum Verzweifeln. Aber wir konnten nichts tun. Man trieb uns bis zum Bahnhof.”
Am Bahnhof wurden sie in offene Güterwaggons verladen, die randvoll mit Schnee bedeckt waren. Das nächste Konzentrationslager von Anastasija war Bergen-Belsen (Niedersachsen). Schon beim Transport fühlte sie sich schlecht: sie erkrankte schwer an Gelbsucht und danach an Typhus. Sie war sehr geschwächt, überlebte aber einigen Angaben nach, wie durch ein Wunder. In Bergen-Belsen wurde sie mit anderen Frauen in eine Baracke gesperrt, wo sie dem Tod überlassen wurden, indem Türen und Fenster vernagelt wurden. Am Vorabend der Befreiung bekamen die Häftlinge jedoch unerwartet Brot. Die hungrigen Frauen stürzten sich darauf und aßen es gierig. Schon bald bekamen sie starke Magenschmerzen und Sodrennen. Anastasija ist sich sicher, dass das Brot vergiftet war.
Rudolph Franz Ferdinand Höß – zwischen 04.05.1940 – 09.11.1943 Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau, des größten Vernichtungslagers im NS-Deutschland. Er beteiligte sich persönlich an Massenhinrichtungen und leitete die Vernichtung von Millionen von Menschen.

Anastasija Gulej während ihrer Ansprache bei der Gedenkfeier anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung des KZ Bergen-Belsen, 26. April 2015, Gedenkstätte Bergen-Belsen, © Stiftung Niedersachsen Gedenkstätten.
Am 15. April 1945 rückten britische Truppen in Bergen-Belsen ein. Die deutsche Lagerverwaltung versuchte zu fliehen, ohne Erfolg. Die Lagermitarbeiter (Kommandant, Wachen, Verwaltung, Arzt und seine Assistenten) wurden gezwungen, die Toten herauszufahren und zu begraben. Die Leichenhaufen überragten die Baracken:
"Und als wir befreit wurden, hatte ich keine Kraft, um mich zu freuen, oder auch nur zu reagieren. Wir verließen die Kaserne und stützten uns dabei so gegenseitig. Welche Freude kann es geben, wenn überall Leichen liegen? Der erste Gedanke war: ‚Und was ist mit ihnen?! Wir fahren nach Hause, aber was ist mit ihnen?‘"

Anastasija Gulej (2. v. r.) mit Kolleg:innen beim Wiederaufbau des im Krieg zerstörten Forstwirtschaftlichen Instituts in Kiew im Jahr 1948. Fotograf unbekannt, © Gedenkstätte Bergen-Belsen.
Nachdem Anastasija Gulej zu ihrer Familie in das Dorf Hraboriwka zurückkehrte, schloss sie die Schule ab und schrieb sich an der Hochschule für Forstwirtschaft ein. Sie heiratete im Jahr 1950 ihren Studienkollegen Wladimir Gulej. Sie brachte einen Sohn und zwei Töchter zur Welt.
In den 1990er Jahren gründete Anastasija in Kyjiv den „Verein der Überlebenden Konzentrationslager-Gefangenen“. Sie sammelte deren Erinnerungen und Geschichten über das Leben in den Lagern. Ausgehend von ihren Erinnerungen schrieb sie das Buch: „Aus der Dunkelheit des Nichts“.
2022 während der vollumfänglich russischen Militärinvasion gegen die Ukraine war Anastasija in der Ukraine. Als der Beschuss begann, ging sie nach Deutschland, kehrte aber bald in ihre Heimat zurück. Jetzt lebt sie in Kyjiw im Stadtteil Schuljany.

Verfasserin: Anna Bulgakova
Quellen: diverse Unterlagen der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten und des Archivs der Gedenkstätte Bergen-Belsen, darunter ein Video-Interview mit Anastasija Gulej, 2008, Zeitzeug_innen-Interviews, Gedenkstätte Bergen-Belsen.