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„Ich hätte nie gedacht, dass ich überleben werde, aber (...) ich hatte keine Angst zu fliehen und rettete mein Leben.“

Sergej Poltawtschenko als Rotarmist 1945 in Deutschland, Fotograf unbekannt, Archiv des Museums Berlin-Karlshorst.

Sergej Semjonowitsch Poltawtschenko (geb. 1918)* war ein sowjetischer Kriegsgefangener.  

 

Sergej wurde an einem Ort geboren, das später den Namen Sascha-Tschekalin-Siedlung (Wolgograder Gebiet, Russland) bekam. Es liegen keine Informationen zur Herkunft seiner Familie vor. Bis er 1941 in die Rote Armee einberufen wurde, arbeitete er als Dreher in einer Fabrik. Beim Angriff der deutschen Truppen auf die Sowjetunion im Juni 1941 war er als Fernmelder an der westlichen Grenze der UdSSR eingesetzt. In ersten Tagen nach dem deutschen Überfall herrschte Chaos in seiner Armeeabteilung: 

"...meine Funkanlage wurde zertrümmert, das Bataillon begann den Rückzug, es gab keine Munition mehr und wir wurden wie Schafe getrieben, zogen uns weiter zurück, wir konnten uns nicht wehren."

Sergej wurde bereits am 2. Juli 1941 von der Wehrmacht gefangen genommen und landete kurz darauf im Kriegsgefangenenlager Stalag in Hammerstein (heute Czarne, Polen). Anfangs gab es dort keine Wohnbaracken, nur ein Häuschen für die Wachen und die Gefangenen schliefen auf der Erde. Einige gruben mit eigenen Händen Erdlöcher, um sich warm zu halten. Erst im Oktober wurden Modulbaracken errichtet, eine davon bestimmte der Lagerkommandant zur „Todesbaracke“: 

„Wir wurden nicht gewaschen, die Wäsche wurde nicht gewechselt, wir bekamen Läuse, sie fraßen uns auf und gaben keine Ruh. Das Essen war sehr schlecht, Steckrübensuppe und Brot, das nicht nach Brot aussah… Ab dem 1. Oktober kam, zusammen mit [anderen] Baracken, eine Baracke, in der gemordet wurde, die Todesbaracke. Zwei Hilfspolizisten führten den Gefangenen heran und hielten ihn fest, ein Hilfspolizist schlug ihm dabei in die Stirn und der andere ins Genick. So wurden jeden Tag über 100 Menschen ermordet. Danach zogen sie [die Getöteten] aus und stapelten sie aufeinander.“ 

 

Die Bedingungen im Lager waren so unmenschlich, dass Kriegsgefangene Selbstmord begingen. Im März 1942 wollten Sergej und einige Kameraden sich auf Stacheldraht stürzen, um erschossen zu werden, aber sie konnten sich dem Zaun nicht nähern, wurden vertrieben und verprügelt. Einige Tage später kam ein deutscher General ins Lager, an dessen Namen Sergej sich nicht erinnert. Ihm wurde die „Todesbaracke“ gezeigt. Laut Sergej, sagte der General, dass die Wehrmacht nicht die Aufgabe habe, die Gefangenen zu vernichten. Er befahl, alle Überlebenden fortzubringen und das Lager niederzubrennen. Man führte die Gefangenen zum Waschen ins französische Kriegsgefangenenlager, und verlegte sie dann in ein Lager in Stettin (heute Szczecin, Polen). 

In diesem Lager, so Sergej, wurden die Kriegsgefangenen zumindest während der Arbeit nicht geschlagen, aber die Essensversorgung war immer noch katastrophal: Zum Frühstück gab es ein Brötchen und ein Glas Tee und zum Mittagessen eine dünne Suppe mit Gerstengrütze, statt Steckrübe. Die Gefangenen durchsuchten Mülltonnen nach Nahrung, aber wenn die Wache dies bemerkte, folgte eine Strafe. Sergej erinnert sich, wie er den einzigen Löffel hütete, den er im Lager hatte:

"Ich hatte meinen eigenen Löffel und versteckte ihn im Stiefel (…) oder im zerrissenen Schuh, je nach dem, was ich damals auf meinen Füßen trug. Wir wurden doch von Lager zu Lager getrieben, der Löffel war wertvoll wie ein Schatz."

Sowjetische Kriegsgefangene arbeiteten in der Stettiner „Oderwerke“-Werft. Während der Bombardierung Stettins am 15. September 1944 flüchtete Sergej zusammen mit einem Kameraden. Sie versteckten sich zehn Tage lang, bis sie gefasst und in einen Karzer gesteckt wurden. Dort blieb Sergej einen Monat, bis er in ein Lager beim Betrieb „Johannes Gollnow & Sohn“ überführt wurde, dort begann er als Heizer zu arbeiten. Aber auch dieser Betrieb wurde bei der Bombardierung zerstört. Ende Januar 1945 wurden die Gefangenen an ein anderes Lager überstellt. Im März 1945 floh Sergej erneut und wieder erfolglos. Ende April wurde er nachts zusammen mit anderen Gefangenen zu Fuß nach Westen geschickt. Sergej floh wieder, diesmal erfolgreich: In der Dunkelheit sprang er von einer Brücke und versteckte sich zwei Tage lang in einem Dorf, bis dort am 26. April sowjetische Truppen einrückten. Er bekam eine sowjetische Militäruniform und diente fortan als Soldat einer Einheit, die in Teterow (Mecklenburg-Vorpommern) stationiert war. 

Sergej wurde im Mai 1946 demobilisiert. Nach Kriegsende arbeitete er als Dreher und ließ sich zum Filmtechniker ausbilden. Er heiratete und bekam mit seiner Ehefrau einen Sohn und eine Tochter. In einem der Briefe, die er im hohen Alter schrieb, fasste Sergej seine Lebenserfahrung zusammen: 

„Ich hätte nie gedacht, dass ich [die Kriegsgefangenschaft] überleben werde, aber (…) ich hatte keine Angst zu fliehen und rettete mein Leben.“ 

 

* Der letzte Brief von Sergej Poltawtschenko an die Organisation „Контакты-Kontakte e. V.“ stammte von 2013. Einem seiner Briefe fügte Sergej in Kopie eine Bescheinigung des russischen Geheimdienstes bei, dass zu ihm keine kompromittierenden Informationen vorlägen.

Before
After
...

Verfasserin: Tatiana Timofeeva

Quellen: Briefe von Sergej Poltawtschenko an die Organisation „Контакты-Kontakte e. V.“, Archiv des Museums Berlin-Karlshorst.

Über das Stalag in Hammerstein schreibt auch

Wladimir Tolkatschow

In Hammerstein gab es zwei Stalags: Stalag II B und Stalag II F (315).