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„Vor mir lag eine Stadt in Flammen, über der eine Armada deutscher Flugzeuge schwebte, die die Stadt bombardierten. Man riet uns, ins Hinterland in Richtung Borissow zu fahren.“

Wladimir Michajlowitsch Tolkatschow (geb. 1920/1921)* war ein sowjetischer Kriegsgefangener.

 

Über Wladimirs Herkunft und sein Leben vor dem Krieg liegen keine Informationen vor. Im Jahr 1940 wurde er zur Roten Armee eingezogen. Im Jahr 1941 diente er als Militärarzthelfer in einem Krankenhaus der Stadt Lida (Belarus). Am 23. Juni desselben Jahres, einen Tag nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion, begleitete er auf Anweisung des Krankenhausleiters die Familien der Ärzte nach Minsk. Er rechnete nicht damit, dass deutsche Truppen die belarusische Hauptstadt bereits angriffen: 

"Vor mir lag eine Stadt in Flammen, über der eine Armada deutscher Flugzeuge schwebte, die die Stadt bombardierten. Man riet uns, ins Hinterland in Richtung Borissow zu fahren."

Am 28. Juni 1941 nahmen Wehrmachtstruppen Minsk ein. Auf dem Weg ins Hinterland stoppte eine Patrouille der Roten Armee Tolkatschows Wagen und verlangte Dokumente. Die chaotischen Zustände in der Roten Armee in den ersten Tagen des Krieges kosteten ihn fast das Leben:

„Ich hatte keine [Dokumente], sie wurden für die Reise nicht ausgestellt. Sie nahmen mir mein Gewehr und die Munitionstaschen weg und befahlen den anwesenden Rotarmisten, mich als Deserteur zu erschießen. Sie führten mich ca. 30 Meter von der Straße weg. Nun stehe ich und warte auf den Schuss. Sie schießen nicht. Offenbar setzten sich die Frauen, die ich begleitete, für mich ein. Sie gaben mir mein Gewehr und meine Taschen zurück und schickten mich zur Sammelstelle für Flüchtlinge. Dann begann ein chaotischer Rückzug ins Hinterland, und 20 Kilometer vor Minsk wurde ich von den Deutschen gefangen genommen.“ 

Wladimir durchlief Kriegsgefangenenlager in Lida und Maladsetschna (Belarus), Grajewo und Suwałki (Polen), bevor er am 25. November 1941 in das Stalag 315 in Hammerstein (heute Czarne, Polen) kam und die individuelle Registrierungsnummer 13213 erhielt. Die Haftbedingungen für sowjetische Kriegsgefangene waren unerträglich. Um zu überleben dachte er deshalb gleich nach der Inhaftierung an Flucht. Wladimir erinnerte sich an einen Vorfall, der eine Vorstellung über die rechtlose Stellung des sowjetischen Kriegsgefangenen vermittelt:

„Grajewo. An einem Augusttag brachten drei Deutsche einen Soldaten ins Lager: klein, blass, dünn, mit einem faltigen Gesicht. Wir wurden um ihn zusammengetrieben. Sie legten vor dem Soldaten einige Kartoffeln hin und verkündeten: ‚Euer Soldat gesteht, einige Kartoffeln aus der Küche gestohlen zu haben. Die Deutschen dulden keine Diebe, zumal er diese Kartoffeln euch gestohlen hat, ihr hättet sie essen müssen. Für solche Verbrechen verdient ein Soldat die Todesstrafe. Und wir werden sie euch zur Lehre vollstrecken. Was hat der Schuldige selbst dazu zu sagen?‘ Der Soldat trat immer wieder von einem Fuß auf den anderen und antwortete, er habe seine Schuld eingestanden, aber der Hunger habe ihn zum Verbrechen gezwungen. Vor seinem Tod bitte er darum, sein Lieblingslied zu singen. Und er sang [ein russisches Lied]: „Hier eilt die Post-Troika, die Poststraße entlang“. Seine Stimme klang klar und hell, mal nahm er hohe, mal tiefe Töne, die ins Flüstern übergingen. Mal fuchtelte er mit den Armen, mal stampfte er mit dem Fuß. (…) Ein russisches Lied erklang über dem Lager. (…) Als das Lied endete, applaudierten die Kriegsgefangenen und auch die Deutschen. Die Deutschen besprachen etwas, und einer von ihnen sagte: ‚Die Deutschen sind eine Kulturnation. Sie können bestrafen und begnadigen. Wir schätzen Talent, Kultur, lieben Musik und Lieder. Ausnahmsweise schenken wir diesem Soldaten das Leben. Aber wir warnen, dass dies das letzte Mal ist.‘ Der Soldat bekam die gestohlenen Kartoffeln, einer der Deutschen brachte einen halben Laib Brot aus der Küche, und führte ihn in seinen Lagerbereich. Niemand weiß, wer er war, aber es hieß, er stamme aus Smolensk.“ 

Später wurden die sowjetischen Kriegsgefangenen als Zwangsarbeiter eingesetzt. Tolkatschow wurde einem Arbeitskommando im Dorf Barkenfelde (heute Barkowo, Polen) zugeteilt und arbeitete in der Landwirtschaft für wohlhabende Bauern. In einer Mainacht im Jahr 1942 riss er zusammen mit vier Kameraden das Gitter aus dem Barackenfenster, um zu fliehen. Die Flucht war erfolgreich. 72 Tage lang waren die ehemaligen Häftlinge zu Fuß und nur nachts unterwegs, bis sie am 17. August 1942 in der Nähe von Slutsk (Belarus) auf belarusische Partisanen trafen.

In den darauffolgenden zwei Jahren war Wladimir Arzt einer Partisaneneinheit. 1944 rettete er Partisanen vor einer Vergiftung, worauf er bis ins hohe Alter stolz war. Gleichzeitig schämte er sich für seine Kriegsgefangenschaft und betonte in einem Brief, dass die Regierung ihm „die Gefangenschaft verzieh“. 

Nach dem Krieg absolvierte Tolkatschow ein Medizinstudium, wurde Arzt und arbeitete im Krankenhaus der Kleinstadt Kossawa (Belarus), das er nach einiger Zeit leitete. In seinen Briefen an den Verein Контакты-Kontakte e. V. lud er zu seinem Bienenstand ein, um die Gäste mit Honig und belarusischen Schnaps zu bewirten. 

*Das Geburtsjahr wurde ausgehend vom Einberufungsjahr zur Roten Armee geschätzt. Der letzte Brief von Wladimir Tolkatschow an die Organisation КонтактыKontakte e. V.“ stammte aus dem Jahr 2012. Alle Zitate sind den Briefen entnommen.

Before
After
...

Autorin: Tatiana Timofeeva

Quellen: Briefe von Wladimir Tolkatschow an „Контакты-Kontakte e. V.„, Archiv des Museums Berlin-Karlshorst.

 

Seine Zeit im Stalag 315 in Hammerstein beschreibt auch

Sergej Poltawtschenko