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„Nina arbeitete an einer riesigen Stanzpresse. Die meisten Stanz-Stempel waren alt, abgenutzt und funktionierten sehr schlecht. Einmal löste sich der Stanz-Stempel und schlug Nina zwei Finger an der rechten Hand ab.“

Lidija Wassiljewna Tachtaulowa (geb. 1921) war eine sowjetische Zwangsarbeiterin und Konzentrationslager-Gefangene. 

 

Lidija wurde am 28. November 1921 in Charkiw (Ukraine) in einer Arbeiterfamilie geboren. 1939 schloss sie die Schule ab und schrieb sich in Charkiw an einer technischen Hochschule ein. Im selben Jahr starb ihre Mutter. 1941 wurde ihr Vater zur Armee einberufen. Zusammen mit ihrer Schwester arbeitete sie darauf als Dreherin in einer Fabrik. 

Nachdem deutsche Truppen im Oktober 1941 Charkiw besetzten, wurden Lidija und ihre Schwester zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Beim Aufenthalt im Transitlager wurden sie als Arbeiterinnen in die Fabrik „Motz & Co.“ in Brandenburg an der Havel (Brandenburg) eingeteilt. Die Schwestern wurden im zweiten Stock des Fabrikgebäudes untergebracht. Dort arbeiteten sie an Stanz- und Biegemaschinen; in der Fabrik wurden Möbeln für die deutsche Armee hergestellt. Das Frühstück der Zwangsarbeiterinnen bestand aus einem Ersatzkaffee und einem kleinen Stück Brot. Zum Mittagessen gab es einen halbvollen Teller Gemüsesuppe. Die Arbeitsbedingungen waren schlecht. Lidija erinnert sich: 

„Nina [ihre Schwester] arbeitete an einer riesigen Stanzpresse. Die meisten Stanz-Stempel waren alt, abgenutzt und funktionierten sehr schlecht. Einmal löste sich der Stanz-Stempel und schlug Nina zwei Finger an der rechten Hand ab. Im Krankenhaus wurden die Fingerreste amputiert. Eine Woche später arbeitete sie wieder an derselben Maschine. Fünf Tage darauf barst das Zahnrad der Maschine und ein Splitter verletzte Ninas Auge. Im Krankenhaus wurde das Auge noch gerettet, aber Nina sah fast nichts damit. Dann wurde sie zur Verpackung von Knöpfen eingeteilt, wo ich bereits arbeitete. 10-12 junge Frauen saßen am großen Tisch, zählten Knöpfe und verpackten sie in Schachteln. Am separaten Tisch saß ein Meister und füllte Papiere aus. Bald stellte sich heraus, dass zu viele Menschen der Fabrik zugeteilt wurden, darauf wurden 10–12 Personen in eine andere Stadt überführt.“ 

Die ersten drei bis vier Monate wurden die Zwangsarbeiterinnen nicht bezahlt und durften das Fabrikgelände nicht verlassen. Später bekamen sie 20–50 Pfennige pro Woche und durften bis zu fünf Stunden in die Stadt rausgehen. Lidija und ihre Schwester konnten sich in dieser Freizeit eine Zeitung, eine kleine Flasche Bier oder einen Kinobesuch leisten. Alle sowjetischen Zwangsarbeiter:innen trugen einen blauen rautenförmigen Aufnäher mit der Aufschrift „OST“ auf der Brust. 

Im Januar 1943 musste Lidija zur medizinischen Untersuchung. Eine angeblich diagnostizierte Tuberkulose sollte als Vorwand dienen, um sie in ein anderes Lager zu etappiert. Stattdessen kam sie ins Gefängnis im benachbarten Potsdam (Brandenburg). Dort wurden ihr vier ihrer Briefe vorgelegt, die sie an ihre Freundin schrieb, die ebenfalls Zwangsarbeit in Deutschland leistete; deutsche Zensurbehörden fingen diese Briefe ab. Darin beschrieb Lidija ihren Alltag, ihre Arbeit und erwähnte Gerüchte über den Kriegsverlauf. Am 9. März 1943 wurden sie zusammen mit 40 weiteren Menschen (ohne ihre Schwester Nina) in das Konzentrationslager Ravensbrück (Brandenburg) etappiert. Lidija erinnert sich an die Ankunft im Lager: 

„Wir wurden reingeführt, aufgereiht, durchgezählt und in ein Gebäude neben dem Krematorium getrieben. Dort befahl mussten wir uns nackt auszuziehen und unsere Sachen auf einen Haufen werfen. Man rasierte uns die Köpfe kahl und trieb uns in die Dusche. Danach bekamen wir Lagerkleidung: ein Kattunhemd mit Ausschnitt, Unterhosen, die mit einem Faden festgezurrt wurden, ein gestreiftes Kleid, mit zweifingerbreiten gelben und blauen Streifen, graue Wollstrümpfe, Schuhe mit Holzsohle und ein weißes Kattunkopftuch. Sobald wir anzogen waren, trieb man uns ins Revier, d. h. in eine hölzerne Krankenbaracke. Sie reihten uns auf und befahlen, nacheinander den äußersten Raum zu betreten. Dort registrierten sie jede einzelne und gaben zwei Nummern und zwei Winkel [deutsch im Original] aus (…) Ich bekam die Nummer 17972 und die Winkel. Danach marschierten wir in Formation zur Baracke Nummer 16. Diese Baracke war aus Beton, im Gegensatz zu übrigen Holzbaracken. Dort gab es eine Kanalisation und fließendes Wasser; unter der Decke hingen Elektrolampen, wie in anderen Baracken.“ 
"Drinnen standen dreistöckige Liegen für 600 Personen. Darauf lagen Strohmatratzen, Strohkissen und Flanelldecken. Jeder von uns bekam einen Platz auf den Liegen zugewiesen. So begann das Lagerleben."

Als Lagerhäftling musste Lidija für das Siemens-Werk arbeiten, wo sie gusseiserne Einzelteile schliff. Aufseher:innen und Wachen verhielten sich streng zu den Häftlingen: Fluchtversuche und Diebstähle wurden unterbunden und hart bestraft. 

Im April 1945 begann die Evakuierung der Lagerverwaltung. Die Gefangenen wurden auf einen Todesmarsch geschickt. Viele Insassinnen versuchten sich im Lager zu verstecken, in der Hoffnung auf eine baldige Befreiung Ravensbrücks durch sowjetische Truppen. Lidija war jedoch in einer Arbeiter:innengruppe, die SS-Leute forttrieben. Am dritten Tag des Marsches gelang es Lidija und anderen jungen Frauen, ihren Wachen zu entkommen. Zwei Tage später stießen sie auf sowjetische Aufklärer. 

Von Mai bis September 1945 arbeitete Lidija in der sowjetischen Kommandantur in Waren (Mecklenburg-Vorpommern). Danach wurde sie in ein Filtrationslager an der polnischen Grenze geschickt. Zwei Wochen später durfte sie in ihre Geburtsstadt Charkiw zurückzukehren. Bei ihrer Rückkehr sah sie, dass ihr Haus vollständig zerstört wurde. 

* Die genauen Lebensjahre sind unbekannt. 

Um KZ-Häftlinge zu systematisieren und zu identifizieren, wurde ihre Lagerkleidung mit einem Stoffaufnäher, einem sog. „Winkel“, oft in Form eines umgedrehten Dreiecks versehen. Dieser hatte, je nach Eingruppierung der Häftlinge, unterschiedliche Farben.

Before
After
...

Verfasser: Vasily Starostin

Quellen:  

Brief von Lidija Tolkatschewa mit Erinnerungen an die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück.

Videointerview des Archivs Zwangsarbeit 1939-1945.

 

Gefangene in nationalsozialistischen Lagern bekamen bei der Aufnahme in das Lager eine Nummer, die der Lagerverwaltung dabei half die Gefangenen zu systematisieren, zu identifizieren und auszusondern. In Konzentrationslagern ersetzte die Lagernummer den Namen, Häftlinge mussten sich stets mit der Lagernummer melden. 

Die Nummern wurden oft an die Häftlingskleidung angenäht. Im Falle der sowjetischen Kriegsgefangenen wurden sie auf eine Erkennungsmarke aus Metall angebracht, die um den Hals getragen wurde. Im Konzentrationslager Auschwitz wurde die Nummer eintätowiert. Viele Gefangene nationalsozialistischer Lager behielten ihre Nummer ihr ganzes Leben lang im Gedächtnis.