Zum Hauptinhalt springen
„Man verlud uns in Güterwaggons, direkt aus dem Gefängnis, in eine separate Gefangenenzelle und brachte uns nach Deutschland.“

Anton Rudnew beim Interview im Jahr 2003, Standbild aus dem Video-Interview, Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.

Anton Gawrilowitsch Rudnew (geb. am 08.01.1926)* war ein sowjetischer Zwangsarbeiter und Konzentrationslager-Gefangener. 

 

Anton Rudnew wurde am 8. Januar 1926 in Charkiw (Ukraine) geboren. Sein Vater war ein Beamter, die Mutter Ärztin. 1937 wurde Antons Vater nach dem Vorwurf, für den „Ausfall landwirtschaftlicher Lieferungen“ gesorgt zu haben, zum Tode verurteilt und erschossen, das gesamte häusliche Eigentum der Familie wurde beschlagnahmt. Die Familie musste zur Großmutter in das Dorf Pissotschyn (Ukraine) ziehen. Vor dem Krieg schloss Anton acht Klassen ab und besuchte eine Handwerksschule. Mit dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion 1941 kam auch der Hunger, weshalb Anton versuchte, Lebensmittel für die Familie aufzutreiben: 

Als die Deutschen 1941 hierherkamen, ich glaube im Oktober oder November kamen die Deutschen nach Charkow, erfuhren ein Freund und ich am zweiten Tag dann, dass eine Charkower Margarinefabrik gesprengt wurde. Und das Fett dort verfestigte sich auf dem Boden und alles war explodiert. Und dieses Fett erstarrte auf dem Boden, ich ging mit einem Freund hin und wir schabten etwas von dieser Margarine ab, so viel wir tragen konnten. Das war natürlich eine große Hilfe…

Der Große Terror (russisch: Большой террор) war eine umfangreiche Verfolgungskampagne in der Sowjetunion. Als Zeit des Großen Terrors im engeren Sinn werden die Monate von Juli 1937 bis Mitte November 1938 verstanden. Allein in diesem Zeitraum kam es zur Verhaftung von etwa 1,5 Millionen Menschen, von denen etwa die Hälfte erschossen, die anderen, bis auf wenige Ausnahmen, in die lager des Gulag gebracht oder in Gefängnissen inhaftiert wurden.

Anton Rudnew über seine Kindheit und seine Familie

Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, 03.09.2003

Anton Rudnew zeigt Familienfotos aus seiner Kindheit

Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, 03.09.2003

Als 15-Jähriger kollaborierte Anton mit den Partisanen und beteiligte sich sogar an der Sprengung eines deutschen Eisenbahnzugs. Er beschreibt seine Untergrundtätigkeit für die Partisanen: 

„Also, ich ging zusammen mit Serjoscha Tscherewanjonok, das war mein Klassenkamerad. Zu zweit gingen wir und nahmen diese Granaten aus. Wir steckten die Granate in eine Baumgabelung, schaukelten sie hin und her und nahmen den Inhalt, also diesen Sprengstoff raus… Und dann baten uns die Partisanen (…) einen deutschen Zug, der Lebensmittel, Soldaten, Waffen, schlicht alles transportierte, zu sprengen. Wir machten also mit, halfen mit, gruben Kuhlen unter den Eisenbahnschienen, wo der Sprengstoff platziert wurde. Aber kurz gesagt, dieser Eisenbahnzug wurde im Ort Pessotschin gesprengt. Die Deutschen verhafteten mich zwei Tage später; einer von uns hat wohl verraten, dass wir daran teilgenommen haben.“ 

 

Nach seiner Verhaftung wurde Anton von Oktober 1941 bis Mai 1942 in ein Gefängnis nahe des Charkiwer Bahnhofs gesperrt. Am 11. Mai 1942 wurde er gewaltsam zur Zwangsarbeit nach Deutschland transportiert:

Man verlud uns in Güterwaggons, direkt aus dem Gefängnis, in eine separate Gefangenenzelle und brachte uns nach Deutschland, nach Bremen. In Bremen kam ich in eine Fabrik, in die Autofabrik „Borgward“. Dort arbeitete ich nur zwei Wochen in einer Schweißwerkstatt. Es gab dort einen deutschen Elektroschweißer. Es war ein richtiger Freund. (…) Er lebte in einem Bremer Vorort und fuhr mit dem Fahrrad zu dieser Fabrik. Und wir waren seine Helfer. Er teilte mit uns, brachte uns Brotstückchen, Kartoffeln; er brachte uns alles mit, versorgte uns zusätzlich mit Nahrung.

 

„Borgward“ war ein Bremer Autounternehmen, das von 1929 – 1961 PKWs und LKWs herstellte. Der Name wird auf den Ingenieur und Autohersteller Carl F. W. Borgward (1890–1963)  zurückgeführt. 

Anton Rudnew über Zuordnung zur Arbeit

Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, 03.09.2003

Nach zwei Wochen floh Anton aus dem Lager, wurde gefasst und kam in ein Außenlager eines Konzentrationslagers bei Bremen (Deutschland). Im Lager arbeitete er an einer Brotschneidemaschine, half den Kriegsgefangenen, indem er ihnen Brotkrümel brachte. Hierfür wurde er bestraft und von allen isoliert. Außerdem erinnert sich Anton, dass er medizinischen Experimenten unterzogen wurde, die an Gefangenen durchgeführt wurden: 

Als ich ins Lager kam, hielten sie uns getrennt, solange wir die ganze Überprüfung durchliefen. Und dann haben sie an uns Experimente durchgeführt, viel Blut von uns Jungs genommen. An mir führten sie Experimente durch. Seit ich 15 bin, habe ich keine Zähne mehr, die Deutschen haben mir die Zähne rausgerissen. Am nächsten Tag versuchten sie diese Zähne wieder einzupflanzen, das gelang ihnen nicht. So blieb ich mein ganzes Leben lang ohne Zähne.

 

Anton unternahm einen weiteren Fluchtversuch, diesmal mit Hilfe eines Lagerarztes und einer Dolmetscherin, wurde aber wieder gefasst. Er kam in ein nicht näher bestimmtes Hamburger Gefängnis. Er arbeitete bei der Trümmerräumung von städtischen Gebäuden nach den Alliierten-Luftangriffen. Ende Februar 1943 kam er ins Konzentrationslager Neuengamme (Hamburg). So beschreibt er die Ankunft ins Lager, das erste Treffen mit der Lagerleitung und den Arbeitsalltag: 

"Bei der Ankunft in Neuengamme wurde unsere Gruppe, bestehend aus Menschen verschiedener Nationalitäten, rechts des Eingangs in das Waschgebäude geführt. Hier wurden wir einer hygienischen Behandlung unterzogen. Sie rasierten uns die Haare überall, wo sie wachsen konnten, schmierten uns mit irgendeiner weißen Salbe ein, wuschen uns danach, und gaben uns gestreifte Kleidung und Holzschuhe zum Anziehen. Dann führten sie uns aus dem Waschgebäude und stellten uns in einer Reihe auf dem Lagerplatz auf. Ein großer SS-Mann mit einer Peitsche in den Händen lief vor uns auf und ab. Er ging die Reihe ab, schaute jedem in die Augen und schlug ihm mit der Peitsche ins Gesicht. Danach trieben sie uns in die Baracke. Meine Lagernummer war 16508. Morgens und abends ließ man uns zur Kontrolle auf dem Lagerplatz antreten. Sie trieben uns zur Arbeit bei der Kanalreinigung. Im kalten Herbst, standen wir knietief in flüssigem Schlamm und schöpften ihn mit Schaufeln und warfen diesen Schlamm ans Ufer. Und hinter unseren Rücken hörten wir eine deutsche Stimme."

Anton Rudnew über die Ankunft im Konzentrationslager Neuengamme

Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, 03.09.2003

In der ersten Aprilhälfte 1945 wurde Anton mit anderen Gefangenen mit dem Zug aus Neuengamme weggebracht. Der Zug wurde während eines Luftangriffs zerstört, aber Anton überlebte, weil er aus dem Waggon sprang, bevor die Bomben fielen. In seinen Erinnerungen erscheint diese Tragödie als ein erschreckendes Bild: 

„Nur diejenigen konnten sich retten, die rechtzeitig aus den Waggons sprangen. Es war schrecklich anzusehen. Es gab einen Strohm aus Menschenblut. (…) Und in den benachbarten Zügen explodierten und pfiffen die Geschosse. In der Nähe gab es einen Wald und die Überlebenden gingen in den Wald.“ 

 

 

Anton Rudnew über Bombardierung während seines Abtransports aus dem Außenlager Salzgitter-Drütte und seine Zeit im Konzentrationslager Bergen-Belsen

Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, 03.09.2003

Anton überlebte, wurde jedoch wieder gefasst. Diesmal kam er ins Konzentrationslager Bergen-Belsen (Niedersachsen). Er hinterließ Erinnerungen an die letzten Tage im Lager, als die Verwaltung, bevor sie floh, so Anton, das Lageressen und das Wasser vergiftete: 

„Es [das Lager] befand sich im Wald und bestand aus vier Teilen, die von einander mit Stacheldraht getrennt waren. Es gab einen abgetrennten Bereich für Juden, die hatten Sterne auf dem Rücken aufgenäht, einen allgemeinen Barackenbereich, eine Küche, in der einst Essen zubereitet wurde mit einem Wassertank, und einen Bereich mit einem Gebäude, wo die Gefangenenkleidung gelagert wurde. Bis zur Befreiung blieben etwa zehn Tage. Während dieser Zeit bekamen wir nicht einmal Essen. Auf dem Gelände lagen Leichenhaufen, die weichen Stellen waren rausgeschnitten. Die Menschen haben sich gegenseitig gegessen. Nachdem die Faschisten wegzogen, stürzten sich alle, ich auch, in die Küche, um zumindest etwas zu essen und Wasser zu trinken. Wir wussten nicht, dass das gelagerte Essen und das Wasser von den Faschisten vergiftet wurden.“ 

 

Nach der Vergiftung wachte Anton in einem britischen Krankenhaus auf, er erholte sich bald darauf. Ende November 1945 kehrte er nach Charkiw zurück. Nach seiner Registrierung beim Militär wurde er zur Arbeit in eine Mine im Donbas (Ukraine) geschickt. Die Mine stürzte während seiner Arbeitsschicht ein. Anton wurde schwer verletzt, was zu einer Behinderung führte. Danach schloss er eine Ausbildung ab und arbeitete als Kantinenleiter.

* Genaue Lebensjahre sind unbekannt.

Anton Rudnew erinnert sich an das Lazarett nach seiner Befreiung und den Filtrationsprozess

Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, 03.09.2003

Before
After
...

Quellen:

Interview mit Anton Rudnew am 03.09.2003, Neuengamme, Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. 

Interview mit Anton Rudnev am 21.05.2023, Archiv des Vereins Charkiw molodoj.