„Die Amerikaner schlugen uns vor, in die USA oder in ein anderes Land zu gehen, sie sagten, wir würden in der Heimat erschossen. Ich wollte nach Hause...“
Fjodor Sergejewitsch Kusmin (geb. 1921)* war ein sowjetischer Kriegsgefangener.
Fjodor Kusmin wurde im Dorf Michajlowka (Region Primorje, Russland) in einer Bauernfamilie als eines von 12 Kindern geboren. Er arbeitete in seinem Heimatdorf als Chauffeur.
Am 28. Juni 1941 wurde er in die Armee einberufen und bekam eine Uniform. Bis Mai 1942 diente er im Hinterland in Chabarowsk (Russland), wo er zum Fernmelder ausgebildet wurde. Den Zug, mit dem Fjodor an die Front fuhr, wurde in der Nähe von Rostow am Don (Russland) bombardiert, den restlichen Weg gingen die Soldaten zu Fuß. Seine erste Kampferfahrung machte Fjodor in der Nähe der Stadt Millerowo im Gebiet Rostow, als er 1200 Meter Telefonkabel unter ständigem Feindbeschuss verlegte. Eines Tages half er einer Sanitäterin, einen verwundeten Soldaten vom Schlachtfeld zu schleppen. Als er zu Ihr und zu einem weiteren Verwundeten zurückkehrte, sah er, dass beide tot waren.
Im September 1942 wurde er bei einem weiteren Einsatz am Bein verwundet und geriet in deutsche Kriegsgefangenschaft. Ein Militärarzt, der sich unter den Gefangenen befand, leistete ihm erste Hilfe. Das verletzte Bein entzündete sich dennoch und schmerzte, die rausragenden Knochenfragmente knirschten beim Gehen. In diesem Zustand wurde er in ein deutsches Kriegsgefangenenlager transportiert. Den Weg zum Lager beschreibt er so:
„…wir wurden hinter Stacheldraht getrieben und dort für etwa zwei Monate unter freiem Himmel festgehalten, dann trieb man uns in Güterwaggons. Ich weiß nicht, wie lange wir ohne Wasser und Nahrung zur Festung Warschau fuhren. Dort wurde der Waggon zum ersten Mal geöffnet. Alle, die noch am Leben waren, wurden ausgezogen, man übergoss uns mit kaltem Wasser, die Leichen zog man mit einem Floßhaken raus.“
Die überlebenden Kriegsgefangenen wurden über Berlin nach Essen (Nordrhein-Westfalen) und dann ins Stalag VI K (326) Senne bei Stukenbrok (Nordrhein-Westfalen) transportiert, das bis 1945 ca. 300000 sowjetische Kriegsgefangene durchliefen, hinzu kamen Kriegsgefangene aus anderen Ländern. Sie lebten in Baracken für 120 – 200 Menschen. Jeden Tag wurden verstorbene Kriegsgefangenen in Wagen zum Krematorium gefahren. Sowjetischen Kriegsgefangene bekamen keine Pakete vom Roten Kreuz, deshalb ernährten sie sich von Essensresten und verdorbenem Getreide. Wenn französische und andere Kriegsgefangene Pakete vom Roten Kreuz erhielten, warfen sie den sowjetischen Gefangenen Schokolade durch den Stacheldraht.
Im Dezember 1943 wurden im Lager Mechaniker und Chauffeure für einen Reparaturbetrieb ausgesucht. Wegen bereits kursierenden Gerüchten befürchtete Fjodor, sie würden zu medizinischen Experimenten fortgebracht. Aber seine Gruppe wurde tatsächlich für Mechanikerarbeiten nach Hannover (Niedersachsen) geschickt. Fjodor erinnerte sich, wie sich die Haltung der deutschen Meister zu Kriegsgefangenen je nach Kriegsverlauf veränderte:
„Der Meister hat oft geschlagen, in seiner Wut konnte er einen Hammer oder einen Schraubenschlüssel nach einem Gefangenen werfen. (…) Essen gab es einmal am Tag, Balanda mit Steckrüben und 200 Gramm Brot. (…) Zum Kriegsende wurden sie [die Meister] freundlicher und gaben manchmal etwas zu essen.“
1945 rückten amerikanische Truppen nach Hannover vor, die Kämpfe um die Stadt dauerten drei Tage. Sowjetische Kriegsgefangene, die in einer Betonbaracke eingesperrt waren, wurden von amerikanischen Truppen befreit, die die Tür mit einem Schneidbrenner aufgeschweißt haben. Sie behandelten die Kriegsgefangenen freundlich und überließen ihnen die Wahl, wohin sie gehen sollten:
Warschauer Festung – Eine militärische Festung in Warschau (Twierdza Warszawa) aus dem 19. Jahrhundert. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs verlor sie ihre Bedeutung für die militärische Verteidigung.
"[Die Amerikaner] schlugen uns vor, in die USA oder in ein anderes Land zu gehen, sie sagten, wir würden in der Heimat erschossen. Ich wollte nach Hause..."
So geriet Fjodor ins sowjetische Filtrationslager. Er wog nur 46 Kilo, schwankte vor Schwäche und wusste nicht, wie er die Fragen beantworten sollte. Es fanden sich Waffengefährten, die bestätigten, dass er beim Kampfeinsatz verwundet wurde und erst danach in Gefangenschaft geriet. Kriegsgefangene, die keine glaubwürdigen Beweise für die Gründe der Gefangenschaft vorbringen konnten, wurden verurteilt und in den Gulag geschickt:
„Am Ende kamen einige Gefangene für 10–12 Jahre auf Kolyma, einige wenige kehrten in die Armeeeinheiten zurück. Mich schickte man zusammen mit einer Gruppe von 12 ehemaligen Kriegsgefangenen in die fliegertechnische Division, um einen Flugplatz zu bewachen.“
Es war ein Regierungsflugplatz in Berlin, auf dem er nach eigenen Erinnerungen, den Generalstabschef der Roten Armee, Georgij Schukow sah:
"Als ich einmal Wache stand, fragte Georgij Konstantinowitsch den Hauptfeldfebel: ‚Warum ist der Soldat nicht in einer ordentlichen Uniform?‘ Zornig trat Schukow auf mich zu, für mich fühlte es sich aber so bitter, so ungerecht an. Ich schlug die Hände vor das Gesicht und weinte. Der Hauptfeldfebel berichtete: ‚Dieser kommt aus der Kriegsgefangenschaft.‘ Schukow wurde sanftmütiger und klopfte mir auf die Schulter: ‚Nun, mein Junge, kein Grund zu Weinen. Es gibt keinen Krieg ohne Gefangene.‘"
Am 2. Juni 1946 wurde Fjodor demobilisiert, er wog bereits 103 Kilo und kehrte nach Michajlowka zurück. Ihm machten Aussagen von anderen Dorfbewohnern Sorgen, die erzählten, dass er in Gefangenschaft dick geworden sei. Seine Familie tröstete ihn:
„Meine Mutter beruhigte mich und sagte: ‚Ich habe zu Gott gebetet, dass du wiederkommst.‘ Als 1942 die Vermisstenmeldung über mich kam, begann sie jeden Morgen mit einem Gebet für mich…“
Fjodor arbeitete wieder als Chauffeur und traf sich mit einer Frau namens Natascha, bis er im Frühjahr 1947 verhaftet wurde. Jemand denunzierte ihn, weil er angeblich sagte, dass die Sowjetmenschen nur Kartoffeln essen würden, die besiegten Deutschen dagegen Fleisch und Würstchen, und außerdem hätten sie bessere Feilen. Fjodor drohte die Einweisung in den Gulag, wegen antisowjetischer Propaganda. Die Leitung der Kolchose, in der er arbeitete, setzte sich für ihn ein und Fjodor wurde freigelassen. Sofort darauf heiratete er Natascha. Er arbeitete sein ganzes Leben in der Kolchose, liebte seine Frau, mit der er zwei Söhne und zwei Töchter hatte. Fjodor schrieb trotz aller Schwierigkeiten über sein Glück:
„Dennoch [denke ich], dass ich ein glückliches Leben habe. Ich habe alles überlebt und ehrlich gearbeitet. Ich habe vier Kinder, 11 Enkel und 14 Urenkel. Das ist mein Reichtum und mein Stolz.“
* Den letzten Brief an die Organisation „Контакты-Kontakte e. V.„ schrieb Fjodor Kusmin im Mai 2012.
Ein Gasschneidbrenner wird zum Schneiden und Schweißen von Metall verwendet.
Verfasserin: Tatiana Timofeeva
Quellen: Briefe von Fjodor Kusmin an die Organisation „Контакты-Kontakte e. V.“, Archiv des Museums Berlin-Karlshorst. Alle Zitate sind den Briefen entnommen. Zu den Quellen gehören Artikel aus der Lokalzeitung “Zejskie ogni” vom 22. Oktober 2008, sowie eine biografische Arbeit von Nikita Kudrjawzew, Schüler der 9. Klasse und Mitglied der Organisation «Erudit» (2007).
Balanda – russische Bezeichnung für eine wässrige Suppe mit Gemüse, häufig mit Steckrübe oder Kohl, wird als Synonym für Mahlzeiten in Lagerhaft verwendet.
Kolyma wird oft synonym für alle Lager- und Verbannungsorte in der Sowjetunion verwendet. Dies geht auf den Fluss Kolyma im Nordosten Sibiriens zurück, wo es viele Arbeitslager des Gulag gab. Die Sterblichkeitsrate in den Lagern der Kolyma war mit ca. 30% besonders hoch.
Technische Fliegerdivision war eine gemischte Einheit der sowjetischen Luftwaffe. Sie war einer regulären sowjetischen Аrmeeeinheit zugeordnet.