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"Es ist bitter zu sagen: Die grausamsten Aufseher waren unsere Verräter, die aus Gefangenen rekrutiert wurden."

Portrait von Stepan Kowalenko, Fotograf: Alexander Tschekmenew.

Stepan Kirjanowitsch Kowalenko (Lebensjahre unbekannt) war ein sowjetischer Kriegsgefangener.

 

Über das Leben von Stepan Kowalenko vor dem Krieg ist nichts bekannt. Er wurde im September 1940 in die sowjetische Armee berufen. In der Stadt Łomża (Polen), im kurz zuvor sowjetisch besetzten Gebieten Polens diente als Topograph in der Armeeeinheit 2343. 

Am 7. Juli 1941 wurde Stepan in der Stadt Stowbtsy in Belarus von deutschen Truppen gefangen genommen. Laut Stepans Aussage geschah dies wegen des Verrats eines Kommandeurs:

„An diesem Tag bezog unsere Einheit neue Position, in 12 Kilometer Entfernung von der Grenze. Nach einem Luftangriff verließen wir unsere Verstecke im Wald. Am Waldrand sahen wir einen kleinen Lastwagen. Neben dem Auto standen ein Politruk in Uniform mit Auszeichnungen und drei Soldaten asiatischen Aussehens (Usbeken oder Tadschiken) in sowjetischer Uniform. Der Politruk sprach zwei unserer Junioroffiziere an. Er behauptete, dass Politruks von den Deutschen auf schrecklichste Weise ermordet wurden und befahl uns, die Waffen zu strecken. Wir, etwa 100 Männer, folgten seinem Befehl. Später stellte sich heraus, dass dies ein Provokateur war, ein Geheimagent, der das Ziel hatte, sowjetische Truppen zu entwaffnen.“ 

Politruk (Abk. von polititscheskij rukowoditel (russ.) — politischer Leiter) war eine militärische Funktion in der Roten Armee im Zeitraum 1919–1942. Als Vertreter der kommunistischen Partei standen politruks neben dem Kommandeur oder waren seine Stellvertreter für die politische Arbeit mit den Mannschaften. Zu seinen Aufgaben gehörte die politische und Bildungsarbeit mit den Soldaten und Offizieren und der Erhalt ihres Kampfwillens. Politruks hatten eine besondere Aufsichtsbefugnis für die Entscheidungen auf Kommandeursebene der Einhheiten.

Balanda – russische Bezeichnung für eine wässrige Suppe mit Gemüse, häufig mit Steckrübe oder Kohl, wird als Synonym für Mahlzeiten in Lagerhaft verwendet. 

Nach seiner Gefangennahme wurde Stepan ins Stalag III C bei Küstrin (heute Kostrzyn nad Odrą, Polen) verlegt. Im Stalag befanden sich mehrere tausend Kriegsgefangene. Stepan bekam die Lagernummer 9455 und wurde zur Arbeit im offenen Steinbruch gezwungen, wo er Steine auf einer Lore schleppte. Seine Nahrungsration war zu gering: 200 Gramm Brot und ein halber Liter Balanda am Tag.

Stepan Kowalenko lernte in der Schule Deutsch und kommunizierte im Lager mit deutschen Soldaten. So freundete er sich mit dem deutschen Aufseher Erich Romonade an, der ihm auch ein Foto zur Erinnerung schenkte. Ein Schlüsselereignis war für Stepan, das Treffen mit Iwan Schewtschenko, der aus demselben Dorf kam und im Lager zum Aufseher wurde. Stepan erinnerte sich, wie Iwan sich weigerte, den Gefangenen mit Nahrungsmitteln zu helfen und diese Tatsache bildete seine unangenehmste Erinnerung an die deutsche Gefangenschaft: 

"Ich erzählte meinen Kindern oft über Deutschland. Obwohl ich die Hölle der Gefangenschaft überleben musste, werde ich in meinem Leben nie etwas Schlechtes über die Deutschen sagen. Es ist bitter zu sagen: Die grausamsten Aufseher waren unsere Verräter, die aus Gefangenen rekrutiert wurden."

Stepan verbrachte vier Jahre im Stalag. Als sich sowjetische Truppen näherten, wurde er zusammen mit anderen Gefangenen ins Landesinnere getrieben. Stepan wurde während dieses Todesmarsches am 4. Mai 1945 von amerikanischen Truppen befreit und später an sowjetische Truppen überstellt. Kowalenko legte erneut den militärischen Eid ab und diente als Topograph in der sowjetischen Armeeeinheit 383 in Saalfeld (Thüringen, Deutschland). In dieser Zeit traf er eine junge deutsche Frau. Die Beziehung zu ihr hinterließ bei Stepan lebhafte Eindrücke: 

"Das Schicksal schenkte mir eine fabelhafte Begegnung. Ich lernte eine junge deutsche Frau kennen, Emmy Bockardt. Ihr Mann starb in den ersten Kriegsjahren. Sie kümmerte sich alleine um ihren fünfjährigen Sohn. Nach jeder Arbeitsschicht in der Offizierskantine, brachte ich ihr einige Lebensmittel mit. Ich hatte auch ein Foto von ihr..."

Im Mai 1946 wurde Stepan demobilisiert. Seine Gruppe reiste aus Deutschland über Polen nach Brest in Belarus. An der sowjetischen Grenze beschlagnahmte man von Stepan das Foto von Emmy und vier Bücher von den russischen Schriftstellern Kondratij Rylejew, Fjodor Tyutschew, Iwan Turgenew und Iwan Bunin. Diese Bücher fand er in einer deutschen Kaserne, in der er nach dem Krieg untergebracht wurde. Man gestattete ihm nur ein Buch über die Grenze zu bringen: Turgenews „Aufzeichnungen eines Jägers“ in der Ausgabe von 1898. 

Nach seiner Rückkehr studierte Kowalenko Veterinärmedizin und arbeitete bis zur Pensionierung als Tierarzt in der Kolchose „Rodina“ in Tscherkassy-Gebiet (Ukraine). Er hat zwei Kinder, Enkel und Urenkel. 1997 verstarb seine Ehefrau. Im betagten Alter kritisierte er oft die Situation der Menschen seiner Region:   

Das Leben geht langsam zu Ende. Noch schrecklicher ist die Vernachlässigung unserer Region. Um mein Haus herum herrscht Stille. Alles liegt in Trümmern. Die Felder werden seit Jahren nicht mehr bestellt: Hunderte Hektar Schwarzerde, der wertvollste Boden der Welt. Meine Kolchose, wo ich 40 Jahre arbeitete, ist völlig zerstört. Nur Unkraut wächst auf den Feldern. Es herrscht Totenstille und Zerstörung…
Before
After
...

Verfasser: Boris Romanow

Quelle: Brief an die Organisation „Kontakte-Контакты e. V.“ vom 07.09.2007, Archiv des Museums Berlin-Karlshorst.