„Ich verbrachte doch dort meine Jugend.“
Wladimir Korobow, nach Mai 1945, Archiv der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen.
Wladimir Semjonowitsch Korobow (geb. 1926), sowjetischer Zwangsarbeiter, Konzentrationslager-Gefangener.
Wladimir Korobow wurde bei Poltawa (Ukraine) geboren. An seine Eltern erinnert er sich kaum: Seine Mutter musste ihn in ein Waisenhaus geben, als der Junge sechs Jahre alt war. Er lebte in unterschiedlichen Waisenhäusern. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs besuchte er die 6. Klasse der Schule beim Waisenhaus in Mariupol (Ukraine).
Als deutsche Truppen das Donezk-Gebiet (Ukraine) besetzten, sollte das Waisenhaus zunächst evakuiert werden, jedoch fehlte dafür die Zeit. Die Mitarbeiter:innen verließen es, und die Kinder blieben sich selbst überlassen. Wladimir erinnert sich:
„Ein Betreuer sagt zu uns: ‚Was habt ihr denn vor zu tun? Ihr müsst Gemüse vom Feld ernten, und Lebensmittelvorräte für den Winter [anlegen].‘ Und wir sagen, dass der technische Leiter bei uns war und der Waisenhaus-Direktor, und der technische Leiter nahm die Pferde mit. Aber jemand riet uns, dass wir uns beim [deutschen Stadt-]Kommandanten beschweren sollten, um die Pferde zurückzubekommen. Zwei Mutige erklärten sich dazu bereit. Am zweiten Tag kommt eine Tatschanka mit zwei [deutschen] Wachen und einem [deutschen] Offizier. Sie ließen uns vor dem Haus antreten, holten diesen Direktor und diesen technischen Leiter herbei und fragten uns: ‚Ist er von den Guten?‘ Wir sagen: ‚Von den Schlechten.‘ Sie zeigten auf den Direktor des Waisenhauses: ‚Und dieser hier?‘ ‚Von den Schlechten‘. Sie zeigten auf einen Erzieher: ‚Der hier?‘, ‚und das ist einer von den Guten.‘ Aber wir wussten dabei doch nicht, dass sie erschossen werden konnten. Sie wurden vor unseren Augen so zum Graben geführt. Diese beiden Wachen haben sie in die Knie gezwungen und sagten zu den Kindern: ‚Wer Angst hat, geht hinter das Haus.‘ Ich ging natürlich nicht hinter das Haus. Wir standen schon und guckten, sie wurden erschossen und fielen in den Graben, diese Erschossenen (…) Der Kommandant sagt zum Ältesten: ‚Die Kinder sollen zu essen bekommen!’“
Anfang 1943 begannen in Mariupol die Deportationen junger Menschen zur Zwangsarbeit nach Deutschland. Wladimir wurde im März nach Hamburg deportiert, wo die Verteilung der Zwangsarbeiter erfolgte. Wladimir meldete sich zur Arbeit in Schwerin (Mecklenburg-Vorpommern), und arbeitete dort bei der Eisenbahn.
Tatschanka – ein offener von Pferden gezogener Kampfwagen mit einem darauf platzierten schweren Maschinengewehr. Seit dem Bürgerkrieg in Russland (1918 – 1923) diente sie als Symbol in der Kriegsliteratur.
"Dort brachten sie uns in einer Baracke unter. Es gab dort Betten. Für Alleinstehende war es nicht schlecht, dort zu leben. Man brachte uns gute Kleidung, als ob wir Zivilisten oder örtliche Jugendliche wären. Aber auf der Brust musste OST stehen. Am Wochenende konnte man in die Stadt gehen. Sie kochten für uns, aber essen wollten trotzdem immer."
Nachts liefen die Jugendlichen auf der Suche nach Nahrung zu den Güterwaggons auf den Bahngleisen. Einmal riss Wladimir mit seinen Kameraden die Versiegelung von einem Postwaggon ab und nahm ein Käselaib mit. Sie wurden festgenommen und in ein Schweriner Gefängnis gebracht. Dann wurde Wladimir ins Gefängnis am Alexanderplatz (Berlin) und von dort in das Konzentrationslager Sachsenhausen (Brandenburg) überführt. Wegen seines Alters kam Wladimir in die Jugendbaracke. Er arbeitete im Kommando „Ballonbau“ und klebte zerrissene Sperrballons. Mit dem Blockältesten, einem Deutschen namens George, baute Wladimir eine gute Beziehung auf. Als der Blockälteste erfuhr, dass Wladimir ein Waisenkind war, verschaffte er ihm eine leichte Arbeit: Er sollte Fässer nach dem Essen waschen. Ende April 1945 begann die Liquidierung des Lagers. George gab Wladimir ein Päckchen Streptozid und einen warmen Mantel mit.
„Sie gaben den Befehl, rauszugehen und sich nach Nationalität zu formieren. Ich gehe hinaus und sehe dort einen Hof voll mit diesen Militärs, deutschen Soldaten mit Maschinenpistolen. 500 Menschen gingen an mir vorbei. Dann stellen die Wachen eine neue Gruppe auf, nehmen sie mit und führen sie raus. Ich sehe, dass sie Russen rausführen. Sie hatten den Buchstaben „R“ auf den Nummern. Ich stellte mich zu dieser Gruppe und ging mit.“
Wie viele Teilnehmer:innen von Todesmärschen erinnert sich Wladimir daran, dass das Verpflegung der Gefangenen schlecht organisiert war. Schwache und zurückbleibende Personen sowie diejenigen, die zu fliehen versuchten, wurden sofort erschossen. Am zweiten Marschtag holten Autos des Roten Kreuzes die Kolonne ein und verteilten Lebensmittelpakete an die Gefangenen. Nachts flohen die Wachmannschaften. Die befreiten Gefangenen suchten nach Nahrung und Kleidung sowie nach Wegen zu den alliierten Truppen.
"Dann ging ich in ein Haus rein. Dort war eine Familie. Sie hatten Angst vor mir. Ich war gestreift und angsteinflößend. Ich fragte sie, ob sie vielleicht etwas zum Anziehen haben? Sie sehen mich an, und können nichts verstehen. Als sie begriffen, dass ich sie um Kleidung bat, brachte mir jemand ein Jackett, eine Hose, irgendeine Mütze. Ich zog alles [was ich anhatte] aus, ließ es bei ihnen liegen und ging weg."
Letztendlich traf Wladimir auf sowjetische Militäreinheiten und wurde zunächst auf einer Farm eingesetzt, um Kühe zu bewachen, und danach auf einer Sammelstelle nahe Neustrelitz (Mecklenburg-Vorpommern), wo er andere Objekte bewachte. Dort lernte Wladimir seine zukünftige Ehefrau, Ewdokija Gerasimowna Michajlyk, kennen, die davor Gefangene im Konzentrationslager Ravensbrück (Brandenburg) war. Im Herbst wurden die bis dahin zu Kräften gekommenen jungen Leute in die Sowjetunion geschickt. Ewdokija fuhr nach Hause, und Wladimir wurde nach Karaganda (heute Qaraghandy), ins Kohleindustriezentrum Kasachstans geschickt. Einige Jahre arbeitete er in einem Bauunternehmen und ließ sich zum Chauffeur ausbilden. Dort wurde er wegen Kohlediebstahls verurteilt und verbüßte von 1947–1952 eine Haftstrafe beim Bau des Wolga-Don-Kanals. Danach kam Wladimir in das Dorf Nowoseliwka (Gebiet Poltawa, Ukraine) und heiratete Ewdokija. In der Familie kamen zwei Töchter zur Welt. Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1987 arbeitete er als LKW-Fahrer, Schlosser und Traktorfahrer. Nach dem Tod von Ewdokija vor 15 Jahren zog Wladimir zu seiner Tochter nach Kyjiw.
Sperrballon — ein Flugobjekt, das in der Luft schweben kann, weil das Gas, mit dem es gefüllt wird, leichter als Luft ist. In der Zeit des Zweiten Weltkrieges wurden Sperrballons zur Verteidigung des Luftraums benutzt, vor allem über Industriegebieten und Schiffen. In der Hülle des Sperrballons aus Nylon oder einem anderen reisfesten Stoff durfte es keine Löcher geben, damit es befüllt und in die Luft gelassen werden konnte.
Die Poltawer Organisation der ehemaligen politischen Häftlinge der faschistischen Konzentrationslager, 1990er Jahre. Ein Foto aus dem persönlichen Archiv der Familie Korobow.
Seine Tochter, Lidija Wladimirowna, erzählt, wie sich die elterliche Lagererfahrung auf ihr eigenes Leben auswirkte:
„Wir Kinder wussten von klein auf, dass unsere Eltern in Konzentrationslagern waren, und sie taten uns sehr leid, besonders Mama. Sie mussten im jungen Alter solches Leid durchleben, und alle Ereignisse hinterließen ein schweres Trauma, das ihr späteres Leben prägte. In ihrem Leben gab es mehr Grau als Helles. Meine Mutter war eine körperlich und seelisch kranke Person. Ärzte und Krankenhäuser waren über das ganze Leben präsent. Mein Vater hatte es einfacher, er wuchs nicht in der Familie, sondern im Waisenhaus auf und hatte, wie ich vermute, eine stärker gehärtete Psyche. Die Eltern lebten ihr ganzes Leben lang in der Vergangenheit, sie erzählten ständig, fast jeden Tag die gleichen Episoden, besonders Mama. Sie teilten sie mit uns und ihren Enkeln. Wir Kinder wuchsen mit Konzentrationslagern auf. Die Eltern erhielten eine Zeit lang finanzielle und humanitäre Hilfe aus Deutschland. Es war um die Jahre 1992–2000, wenn ich mich nicht irre. Die örtlichen Behörden halfen eine Zeit lang mit Lebensmittel, etwa in dieser Zeit. Die glücklichste Zeit für meine Eltern war, als sie ihren Kindern, mir und meiner Schwester, eine Ausbildung ermöglichen konnten und wir Berufe erwarben.“
Um KZ-Häftlinge zu systematisieren und zu identifizieren, wurde ihre Lagerkleidung mit einem Stoffaufnäher, einem sog. „Winkel“, oft in Form eines umgedrehten Dreiecks versehen. Dieser hatte, je nach Eingruppierung der Häftlinge, unterschiedliche Farben. Zusätzlich wurden unterschiedliche Nationalitäten mit jeweiligen Buchstaben markiert. Das „R“ stand dabei nicht nur für Russen, sondern auch für andere Sowjetbürger.
Verfasserin: Vera Yarilina
Quellen: Die Biographie basiert auf Interviewmaterialien von Wladimir Korobow und Lilija Korobowa mit der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen.
Streptozid — ein Medikament gegen Bakterien und Mikroorganismen. Es wird bei der Behandlung von unterschiedlichen Infektionskrankheiten eingesetzt.