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Wladimir Tschernownikow, Foto von 2010, Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.

Wladimir Tschernownikow (geb. 1924)* war ein sowjetischer Zwangsarbeiter und Konzentrationslager-Gefangener.

 

Wladimir Tschernownikow wurde am 1. Mai 1924 in Charkiw (Ukraine) geboren. Er hatte zwei Schwestern und einen Bruder. Vor dem Zweiten Weltkrieg absolvierte er sieben Schulklassen. Ab 1940 bis zum deutschen Angriff auf die Sowjetunion arbeitete er als Elektriker. 

In den ersten Tagen nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion musste Wladimir wie viele seiner Altersgenossen Verteidigungs- und Panzerabwehrgräben außerhalb der Stadt graben. Mit dem Vorrücken der deutschen Truppen, wurden die Arbeiten im Oktober 1941 eingestellt. Charkiw wurde bald besetzt. Nach weiteren drei Monaten wurde Wladimir am 21. Januar 1942 zwangsweise nach Deutschland gebracht. Die Transportbedingungen waren für ihn und andere Zwangsarbeiter:innen laut seinen Erinnerungen hart: 

Kapos waren privilegierte Häftlinge, die mit der KZ-Verwaltung zusammengearbeitet haben.

"Dann wurden wir unter Bewachung verladen. Es war eine Eiseskälte. Sie verluden uns in Güterwaggons, sie wurden nicht geheizt, null. Überall waren Soldaten, wir wurden wie Gefangene transportiert. Dann fuhren wir los... Erinnern Sie sich etwa nicht daran, welches Brot es während des Krieges gab...? Auch in Deutschland bestand das Brot zur Hälfte aus Sägemehl... Und wir haben es mit einer Axt gehackt. Es herrschte Frost, [minus] 28 [Grad]. Der Winter damals war sehr kalt, im Jahr [19]41... es war im Jahr [19]42... 28-30 Grad [minus] und sie warfen für vier [Personen] am Tag nur ein Laib Brot hin. Deshalb hackten wir es dort mit einer Axt und saugen am Brot... Die Waggons wurden nicht beheizt, diese Güterwaggons."

In Deutschland wurde Wladimir mit 40 weiteren Menschen zunächst nach Hamburg und von dort in ein Arbeitslager in Kiel (Schleswig-Holstein) gebracht. Sein Arbeitstag als Dreher dauerte ca. 12 Stunden. Die Essensversorgung war laut seinen Erinnerungen schlecht: 

„Einmal gab es so einen Vorfall. Etwa nach zwei Wochen [seit meiner Ankunft]. Ich war überrascht. Die Deutschen galten immer als ein reinliches [Volk]… Sie brachten uns Suppe, wir nannten sie ‚Balanda‘. Und dort waren… Würmer. So einen Vorfall gab es. Das habe ich mir nicht ausgedacht. Ich muss gar nichts erfinden. Nun, beim ersten Mal [empörten] wir uns dort. Verstehen Sie, wir waren bereits am Limit.“ 

 

Im Mai 1943 versuchte Wladimir zusammen mit anderen Lagerbewohnern zu fliehen, nachdem er mehrere Dutzend Mark angespart hatte, die er für die Arbeit in der Fabrik bekam. Ein Übersetzer aus dem Lager sollte ihnen dabei helfen: 

„Aber Sie wissen selbst, dass das deutsche Volk Ordnung liebt; es liebt es, alles sauber zu halten, ich sage es, wie es ist. Wissen Sie… Wir hatten noch etwas von zu Hause übrig: anständige Hosen, gute Hemden. Wir bügelten alles glatt. Damit sie nicht sahen, dass wir Russen sind… Der Übersetzer kaufte auch ein Ticket, hin und zurück, wir bezahlten alles. Von Kiel nach Hamburg und zurück. Also, er versprach, uns nach Hamburg zu bringen, um Schwierigkeiten zu vermeiden. Warum bis Hamburg bringen? Weil es dort einen Hafen gab. Wir träumten davon, dort entweder auf ein Schiff [zu steigen]… oder irgendwo dort… Das war doch eine Hafenstadt.“ 

 

Wladimir gelang es, bis Hamburg zu kommen; aber er wurde bei der Polizeikontrolle verhaftet, weil er keine Papiere hatte. Aus Hamburg wurde er in das Kriegsgefangenenlager Wietzendorf (Niedersachsen) transportiert: 

„…wir wurden auf Baracken verteilt. All unsere Kleider wurden ausgezogen. Eine Dusche gab es dort nicht. Sie gaben uns graue Hosen, nicht gefleckt, nicht gestreift, sondern grau, wie im Gefängnis…. Es war Sommer. Hemd… und Mütze (deutsch im Original) waren grau, Holzschuhe. Sie waren so, wissen Sie… Ich habe immer noch eine Narbe [von den Holzschuhen]. (…)Socken gab es nicht, dafür gaben sie uns solche Stoffstücke, um unsere Füße einzuwickeln. Am Morgen des zweiten Tages mussten wir uns aufreihen. Ja, sie wiesen uns dort auch Nummern zu. Ich hatte dort die Nummer 250… Das war ein neues Lager. Es wurde gerade eröffnet. Es wurde noch gebaut.“

 

Im Lager musste Wladimir kräftezehrende körperliche Arbeit leisten: Er belud kleine Wagen mit Sand, zog sie mit Händen über eine Schmalspurbahn, schüttete den Sand aus und wiederholte den Vorgang. Nach einem weiteren Luftangriff auf Hamburg wurde er zur Trümmerräumung geschickt. Im Sommer 1944 wurde er verdächtigt, anti-nationalsozialistische Flugblätter verteilt zu haben. Darauf wurde er ins Gefängnis und dann ins Konzentrationslager Neuengamme (Hamburg) geschickt, wo er die Nummer 42225 erhielt. Dank einem bekannten Ukrainer namens Viktor bekam er in Neuengamme eine Arbeit im Kaninchenstall. Laut seinen Erinnerungen, rettete dies sein Leben:

Ich muss mein ganzes Leben lang Viktor Schtanjko danken, der mich vor sicherem Tod rettete. Weil man sich dort wenigstens an Rüben sattessen konnte, soviel man wollte. Das Leben im Lager ist auf eine Sache reduziert: etwas zu essen. Verstehen Sie, weil man Tag und Nacht essen möchte. Und dort, in diesem [Arbeits-]Kommando, gab es genug Rübe. Und wenn ein Mensch ein wenig [satter] ist, achtet er schon auf sich, er vernachlässigt sich nicht. Und bemüht sich irgendwie, sich den Lagerführern (deutsch im Original) zu entziehen, sich den Kapos (deutsch im Original) zu entziehen, und so bekommt er schon weniger Prügel.

Die Gefangenen wussten, dass die alliierten Truppen ihr Lager bald befreien würden, aber laut Wladimirs Erinnerungen hatten sie Angst, dass sie dieses Ereignis nicht miterleben würden: 

„Verstehen Sie, dort durfte man doch nicht Ausschau halten. Alle hatten Angst, wenn du [dem Zaun] nahekommst, konnten sie [die Wachen] dich plötzlich schnappen. Alle fühlten es doch, dass der Krieg bald zu Ende ist. Viel Zeit blieb nicht mehr und plötzlich schnappen sie dich, stecken dich in eine Zelle oder in einen Bunker und dort wirst du sterben. Da ist jeder… damit… Wissen Sie, meine lieben Mädchen, jeder… Das gibt’s doch nur im Kino, dass Schauspieler die Selbstaufopferung mimen.“ 

 

Zwischen 27.–28. April 1945 wurden Wladimir und andere Gefangene aus Neuengamme evakuiert. Am 1. Mai kamen sie in Lübeck an, wo er mit anderen Gefangenen das Dampfschiff „Thielbek“ bestieg, das in See stach. Unterwegs wurde es von britischen Fliegern beschossen und bombardiert. Das Schiff sank: 

„Ich erinnere mich nicht an diesen Mann, aber er war älter als ich. Wenn ich damals 20 war, war er 30 Jahre alt. Ich habe seinen Namen vergessen, aber ich kannte ihn aus Neuengamme. Und er kannte mich und sagte: ‚Wolodja, wir müssen springen, sonst… Ich war bei der Verteidigung Sewastopols dabei und ich weiß, wenn ein Schiff sinkt, werden wir vom Sog runtergezogen. Wir müssen vom Schiff wegschwimmen.‘ Deshalb sprang ich. Was habe ich gefühlt? Natürlich als ob Tausende von Nadeln auf meinen Körper einstachen. Das Wasser war kalt. Das war in der Nordsee. Am 3. Mai. Die Temperatur lag bei fünf oder sechs Grad. Ich weiß es nicht. Und am Nachmittag fiel Schnee. Tausende von Trümmerteilen, die zu Flößen wurden, alles fiel über Bord. Die „Thielbek“ zerbrach in zwei Hälften.“ 

 

Wladimir überlebte. Er schwamm zu einem kleinen Floß und erreichte in Handarbeit das Ufer, wo ihm britische Soldaten halfen. Ende Mai 1945 wurde er an das sowjetische Militär übergeben. Nach Durchlaufen eines sowjetischen Filtrationslagers setzte er seinen Dienst in der Roten Armee fort. Am 12. April 1947 wurde er demobilisiert und kehrte nach Charkiw zurück. Er arbeitete als Elektriker und Installateur. 

 

* Die genauen Lebensjahre sind unbekannt. 

Balandarussische Bezeichnung für eine wässrige Suppe mit Gemüse, ufig mit Steckrübe oder Kohl, wird als Synonym für Mahlzeiten in Lagerhaft verwendet. 

Before
After
...

Quelle:

Interview mit Wladimir Tschernownikow, 09.08.1993, Charkiw, Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.