„Stacheldraht umgab zu dieser Zeit, so schien es, ganz Deutschland. Einheimische Bewohner haben wir nicht gesehen.“
Pjotr Grigorjewitsch Soroka (geb. 1923)* war ein sowjetischer Kriegsgefangener.
Die Familie von Pjotr Soroka stammte von ukrainischen (Saporoger) Kosaken ab, die im 20. Jahrhundert am Fluss Kuban (Russland) siedelten.
Pjotr geriet am 10. August 1942 in die deutsche Gefangenschaft nachdem er bei Stalingrad (heute Wolgograd, Russland) schwer verwundet wurde. Er kam ins Stalag VI K (326) Senne bei Stukenbrok (Nordrhein-Westfalen) und bekam die Kriegsgefangenennummer 107280. Nach der Behandlung im Lazarett in Bad Fallingbostel wurde er nach Hannover (Niedersachsen) verlegt, um für die Firma „Lindener Eisen- & Stahlwerke“ zu arbeiten. Dort arbeiteten auch andere Kriegsgefangene: Franzosen, Belgier, Niederländer, Tschechen; es gab kaum deutsche Mitarbeiter. Pjotr beschreibt die isolierte Situation der Gefangenen und wie er sich zum ersten Mal wieder als Mensch fühlte, als er nach einem Unfall die Hilfe eines städtischen Arztes benötigte:
„(…) sowohl die Fabrik als auch die Baracken, in denen wir lebten sowie der Verbindungsgang waren durchgehend von Stacheldraht umgeben. Stacheldraht umgab zu dieser Zeit, so schien es, ganz Deutschland. Einheimische Bewohner haben wir nicht gesehen. Ein einziges Mal, als ich Metallspäne ins Auge bekam, (…) wurde eine Straßenbahnfahrt in die Stadt zum Augenarzt organisiert. Ich saß in der Straßenbahn und neben mir stand ein Wachmann. Um mich herum waren Menschen und ich fühlte mich auch als Mensch.“
In der Gießerei, wo Pjotr arbeitete, war es stets laut und sehr heiß. Er arbeitete in Nachtschichten, von sechs Uhr abends bis sechs Uhr morgens. Essen gab es nur im Lager, es war stets „Balanda“, eine Wassersuppe mit wenig Gemüse, dazu Brot. Die Suppe wurde in Schüsseln verteilt, eine Schüssel für je fünf Personen. Gefangene nahmen die Schüssel, gingen in die Baracke, setzten sich in Kreis und aßen alle daraus, Jeder mit seinem eigenen Löffel.
Nachdem die Werke 1943 bei einem Bombenangriff der Alliierten zerstört wurden, verlegte man die sowjetischen Kriegsgefangenen in die Ortschaft Wildemann (Niedersachsen). Auch das neue Lager, in dem sie festgehalten wurden, wurde mit Stacheldraht umgeben. Durch den Zaun sahen die Kriegsgefangenen jedoch Einheimische und kommunizierten mit ihnen. Gefangene bastelten Spielzeug für deutsche Kinder und tauschten es gegen Lebensmittel, indem sie es durch den Zaun reichten. Versorgt wurden sowjetische Gefangene dort mit einer täglichen Mahlzeit in einer normalen Dorfgaststätte, wohin sie in einer bewachten Kolonne durch das Dorf zogen. Manchmal kommunizierten sie mit deutschen Zivilist:innen und stellten fest, dass diese „sich durch ihre Freundlichkeit nicht von Russen unterschieden“:
„Balanda“ ist die russische Bezeichnung für eine wässrige Suppe mit Gemüse, häufig mit Steckrübe oder Kohl. „Balanda“ wird oft als Synonym für Mahlzeiten in Lagerhaft verwendet.
"Ich sah eine erwachsene Frau, sie lief neben uns her, dann trat sie schnell auf mich zu und steckte ein anständiges Stück Brot in meine Manteltasche. Auf Deutsch sagte sie, was in etwa bedeutete: ‚Mein Sohn ist bei euch in Gefangenschaft. Er soll zurückkommen!‘ Es ist 60 Jahre her, ihr Gesicht habe ich vergessen, aber ihre Güte vergesse ich nie... Nachdem wir ihr Stück Brot beim Mittagessen geteilt hatten, wünschten wir ihr, ihren Sohn wiederzusehen."
Nach der Befreiung durch amerikanische Truppen kam Pjotr Soroka zusammen mit anderen ehemaligen Gefangenen am 18. April 1945 in ein amerikanisches Lager in Hettstedt (Sachsen-Anhalt). Nach der Filtration und der Rückkehr in die Sowjetunion wurde er mit dem Zug zur Sonderansiedlung in die Stadt Karaganda (heute: Qaraghandy, Kasachstan) gebracht. Dort musste er auf einer Baustelle arbeiten. In der Nähe arbeiteten auch deutsche Kriegsgefangene, die in die Sowjetunion deportiert wurden. Pjotr erinnerte sich an die Frau, die ihm, einem Kriegsgefangenen aus dem feindlichen Land, ein Stück Brot reichte:
„Eines Tages holte ich mir mit Lebensmittelkarte ein Brotlaib. Als ich den Laden verließ, sah ich eine Gruppe deutscher Kriegsgefangener. Sie warteten auf ein Fahrzeug, das sie von der Baustelle zum Lager brachte. Ich erinnerte mich an diese Frau aus Wildemann, brach die Hälfte des Brotes ab, ging zu einem jungen Gefangenen und gab ihm [das Brot] mit den Worten: ‚Iss, deine Mutter wartet auf dich!‘ Ich habe viel über diese Frau nachgedacht und freute mich, dass ich es ihr vergelten konnte.”
Laut Pjotrs Erinnerungen jubelten die deutschen Kriegsgefangenen, als sie Gruppe für Gruppe zum Bahnhof gebracht und nach Hause nach Deutschland geschickt wurden. Die Heimkehrer streiften laut singend durch die Straßen und die Einheimischen standen am Straßenrand und freuten sich mit ihnen.
Nach seiner Entlassung aus der Sonderansiedlung kehrte Pjotr in seine Heimatregion Kuban (Russland) zurück, heiratete und bekam drei Kinder. Danach fuhr er wieder nach Kasachstan, wo er an der „Erschließung des Neulandes“ teilnahm.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion zog seine Familie 1998 ins Brjansker Gebiet in Russland. Pjotrs erinnerte sich, dass in der UdSSR am „Tag des Sieges“ nicht über sowjetische Soldaten gesprochen wurde, die in deutscher Gefangenschaft waren, man schämte sich dafür.
* Der letzte Brief von Pjotr Soroka an die Organisation „Контакты-Kontakte e. V.“ stammte vom August 2011. Dieser enthielt einen Auszug aus der Zeitung «Der Veteran» vom August 2011, gezeichnete Pläne und Zeichnungen. Alle Zitate sind den Briefen von Pjotr Soroka entnommen.
Zwischen 1954–1965 wurden in der Sowjetunion zuvor unbestellte Flächen vor allem auf dem Gebiet der heutigen Republik Kasachstan landwirtschaftlich genutzt. Die politische Führung der Sowjetunion nannte diesen Prozess „Erschließung des Neulandes“. Dafür setzte sie enorme Ressourcen ein und propagierte diesen Prozess in der Gesellschaft.
Autorin: Tatiana Timofeeva
Quellen: Briefe von Pjotr Soroka an die Organisation „Контакты-Kontakte e. V.“, Archiv des Museums Berlin-Karlshorst.
Pjotr Soroka war im Stalag VI K (326) Senne wie
Fjodor Kusmin
Iwan Mironenko
und arbeitete in den „Lindener Eisen- & Stahlwerken“ wie
Iwan Sablozkij
Mit Lebensmittelkarten versuchen Staaten den Kauf und Verbrauch von Lebensmitteln zu normieren. In der Sowjetunion gab es Lebensmittelkarten zwischen 1929–1947. Die Normen der Lebensmittelnverteilung waren unterschieden sich erheblich, je nach historischen Ereignissen, Region und sozialem Status einer Person. Für berufstätige Männer galten die höchsten Ernährungsnormen.
Auch im Deutschen Reich wurden kurz vor dem Beginn des II. Weltkrieges Karten für unterschiedliche Lebensmittel eingeführt.