„Sie fragte mich: ‚Willst du, dass ich deine Mutter werde?′ Ich sagte: ‚Ja, das will ich.′“
Galina Gisbrecht am 60. Jahrestag der Befreiung des KZ Ravensbrück 2005. Fotograf: Heinz Heuschkel, Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück.
Galina Kirillowna Gisbrecht (Kabanowa) (geb. 1938) war ein Konzentrationslager-Häftling.
Sie wurde in einem Dorf im Gebiet Witebsk (Belarus) geboren und war das jüngste von vier Kindern. Ihr älterer Bruder diente seit 1940 in der Roten Armee und kämpfte in der Nähe von Leningrad (heute St. Petersburg, Russland). Ihr Vater und die beiden jüngeren Brüder waren Partisanen.
Nach Besetzung sowjetischer Gebiete durch deutsche Truppen, wurden ihr Vater und einer der jüngeren Brüder 1943 vor den Augen der fünfjährigen Galina erschossen. Im September 1943 wurden Galina und ihre Mutter als Familienangehörige von Partisanen ins deutsche Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau (heute bei Oświęcim, Polen) gebracht. Im Sommer 1944 starb Galinas Mutter an Typhus. Dies ist eine der wenigen erhaltenen Erinnerungen von Galina an Auschwitz:
„Ich war mit Mama zusammen. Mir etwas einprägen, das wollte ich vielleicht am allerwenigsten, aber ich erinnere mich, als Mama starb. Sie konnte nicht arbeiten. Sie lag auf der unteren Liege und bat mich, ihr Wasser zu bringen. Ich lief im Lager umher, aber ich konnte nirgendwo Wasser finden. Ich kam zurück, die griffen die Deutschen sie an Armen und Beinen und trugen sie aus der Baracke und warfen sie in die Grube. Ich erinnere mich, dass ich neben der Grube umherkroch und immerzu schrie: ‚Mama! Mama! Mama!′ Jetzt, wo ich schon erwachsen bin, weiß ich, dass die Krematorien es einfach nicht schafften, die toten Menschen zu verbrennen. Sie wurden in die Grube geworfen und nachts verbrannt.“
Galina wurde in das deutsche Konzentrationslager Groß-Rosen (heute Rogoźnica, Polen), danach ins Konzentrationslager Sachsenhausen (Brandenburg) und schließlich im Januar 1945 in das Konzentrationslager Ravensbrück (Brandenburg) überführt. Von ihrem Aufenthalt in Groß-Rosen und Sachsenhausen erfuhr Galina erst aus Dokumenten. Sie erinnert sich jedoch noch gut an ihre Ankunft in Ravensbrück:
„Wir wurden auf einen offenen Bahnsteig gebracht und hier irgendwo abgesetzt. Wir wurden irgendwo unten untergebracht, wie in einem Keller, und dann kamen russische Frauen-Kriegsgefangene und führten uns von dort weg.“
Galina gehörte zu den Kindern von Kommandeuren und Partisanen, die zur Vernichtung bestimmt wurden. Sowjetische Kriegsgefangene nahmen die Kinder in Obhut und beherbergten sie in ihrem Block. Maria Petruschina, Galinas „Lagermutter“, erinnerte sich an diesen Widerstandsakt:
„Dieser Block – ich weiß nicht mehr, welcher, es ist so lange her — dort wurden Leuten verwahrt, die für die Gaskammer bestimmt waren. Wir gingen dort hinein, das heißt, wir näherten uns dem Block, die Türen waren geschlossen, wir gingen zu den Fenstern. Die Kinder waren nicht einmal zu sehen, sie lagen auf Pritschen. Wir öffneten das Fenster und stiegen ein. Diese Kinder anzuschauen, das war pure Angst. Wir nahmen diese Kinder und trugen sie raus, einige Leute standen draußen, und wir reichten ihnen die Kinder. Sie waren Skelette. Bleich und ausgezehrt. Dann schleppten wir sie in unseren Block 26.“
Galina wurde von Maria Petruschina (Lagername „Moskau“) in Obhut genommen. Galina erinnert sich an die Adoption durch die „Lagermutter“:
„Sie kam herein und fragte: ‚Woher kommst du, Mädchen?′ Ich sagte, aus Belarus und nannte meine vollständige Adresse, dass meine Mutter gestorben war, mein Vater erschossen wurde und niemand mehr da war, dass ich allein war. Sie fragte mich: ‚Willst du, dass ich deine Mutter werde?′ Ich sagte: ‚Ja, das will ich.′ [Sie fragte mich]: ‚Wirst du mich Mama nennen?′ Ich sagte: ‚Ja, das werde ich.′“
"Seitdem, seit Januar [1945], nannte ich Maria Iwanowna Petruschina immer Mama."
Im April 1945 gelang es einer Gruppe von Kriegsgefangenen, noch vor der Ankunft der sowjetischen Truppen, das Lager zu verlassen. Ein Deutscher Wachmann gab Maria Petruschina einen Karren, auf den sie fünf Kinder und eine Frau setzten, die nicht laufen konnte. Mit sechs weiteren Frauen spannte sich Maria Petruschina vor den Karren. Der Deutsche, von dem Maria den Karren bekam, ließ sie durch das Tor. Nach Verlassen des Lagers versteckten sie sich im Wald.
Als sowjetische Truppen eintrafen, wurden die Frauen und Kinder in einem Dorf nahe Ravensbrück untergebracht und später zur Überprüfung zu Passierpunkten geschickt. Maria Petruschina und Galina durchliefen drei Überprüfungskommissionen und durften erst im Juli 1946 nach Moskau (Russland) fahren.
Bei ihrer Rückkehr nach Moskau war Maria 21 Jahre alt. Alle wussten, dass Galina die Tochter von Partisanen war und dass Maria sie im Konzentrationslager in Obhut nahm. Im Herbst 1946 ging Galina in die erste Klasse. Sie war häufig krank und litt nach dem Lager an Wirbelsäulen- und Lungentuberkulose. Maria versuchte, staatliche Hilfsleistungen für das Kind einzufordern. Galina erinnert sich daran:
„1949 schrieben wir Stalin einen Brief. Mama diktierte, ich schrieb: Dass ich aus Belarus käme, dass mein Vater und meine Brüder Partisanen waren, dass meine Mutter in Auschwitz umkam. Das alles schrieben wir nieder, und dass mich eine ehemalige Ravensbrück-Gefangene in ihre Obhut nahm. Deshalb baten wir um eine Art Zulage für ein Kind von verstorbenen Eltern. Aber die Staatsorgane antworteten: ‚Du hast es genommen, dann erziehe es auch. Willst du es nicht, dann gib es in ein Waisenhaus.′ Das war alles.“
Bei der Stadtverwaltung erwirkte Maria jedoch eine Einweisung ins Sanatorium zur Langzeitbehandlung. Alles andere musste sie aus eigenen Kräften stemmen.
Maria Petruschina und Galina 1960er. Fotograf unbekannt. Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück.
Laut Galina erinnerte man sich in der Familie oft an die Lagererfahrung:
„Mama und ich sprachen oft [über das Konzentrationslager]. Sie sagte zuweilen: ‚Galka, erinnerst du dich an dieses oder jenes Ereignis? Galka, erinnerst du dich daran?′ Ich erzählte ihr, woran ich mich erinnerte, wenn ich mich an etwas nicht erinnerte, erzählte sie es mir. Ich erzählte ihr von Auschwitz, an das, was mir in Erinnerung blieb. Und hier in Ravensbrück waren wir zusammen gewesen. Wir sprachen oft darüber. Auch als wir schon erwachsen waren. Als Mama 60 Jahre alt war, waren wir auf ihrer Datsche. Dort versammelten sich alle Frauen, die in Ravensbrück gewesen waren, alle kamen zu ihr, saßen beisammen und erinnerten sich an alles.“
Galina heiratete, sie hat zwei Töchter sowie Enkel und Urenkel. Sie sprach auch mit ihren Kindern über das Konzentrationslager und zeigte ihnen Bücher über Ravensbrück. 2023 feierte Galina ihren 85 Geburtstag.
Verfasserinnen: Olga Bubnova und Liliia Zainetdinova
Quellen:
Interview mit Galina Gisbrecht beim 4. Ravensbrücker Generationenforum 2008.
Interview mit Maria Petruschina und Galina Gisbrecht im Film „Frauen aus Ravensbrück“ des ukrainischen Studios für Chronik- und Dokumentarfilme, 1984.