"All diese Tagen hat mich nur die Liebe zu Maria am Leben gehalten."
Standbild aus einem Video-Interview mit Nikolaj Walsenko, NS-Dokumentationszentrum München, 2021.
Nikolaj (Mykola) Wassiljewitsch Wlasenko (1924–2021) war ein sowjetischer Zwangsarbeiter.
Nikolaj Wlasenko wurde am 4. Januar 1924 in Basiliwschtschyna (Gebiet Poltawa, Ukraine) in der bäuerlichen Familie von Wassilij und Wera Wlasenko geboren. Ein Jahr nach Nikolaj kam seine Schwester zur Welt. Als Nikolaj ca. sechs Jahre alt war, wurde sein Vater verhaftet und aus der Ukraine verbannt. 1932 fuhr seine Mutter mit den Kindern fast eine Woche mit dem Zug zu ihrem Vater. Diese Reise wirkte auf Nikolaj, laut seinen Erinnerungen, wie ein Ausflug:
"Solange ich mich erinnern kann, fühlte ich mich nie wie ein Kind. Wir Bauernkinder wurden durch die harten Lebensumstände schnell reif und altklug. [...] Wir lernten schnell zu arbeiten: auf dem Feld, im Haushalt, mit dem Vieh im Stall. Die Reise nach Sibirien empfand ich damals wie einen Urlaub: ich durfte sitzen und die ganze Zeit aus dem Fenster schauen."
Die Familie ließ sich in einer Sonderansiedlung nahe Ussurijsk (Region Primorje, Russland) nieder. Nikolajs Vater arbeitete auf einem Frachtschiff, das mit China Handel trieb, und sah seine Familie wochenlang nicht. Die Mutter lebte mit ihren Kindern einsam im Waldgebiet, fernab der Stadt. Im Sommer 1933 beschlossen sie, nach Charkiw (Ukraine) zu ziehen. Wegen der Hungersnot in der Ukraine waren die Überlebensbedingungen dort jedoch noch geringer. Nach ca. einem Jahr verließ die Familie 1935 Charkiw in Richtung Chabarowsk im fernen Osten der Sowjetunion, wo Wassilij Arbeit in einer Ziegelfabrik bekam. Jedoch wurde im selben Jahr in der Region eine obligatorische Registrierung eingeführt, weshalb die Familie wieder in die Ukraine zurückkehren musste:
"Das aufgezwungene Nomadenleben hinterließ Spuren: wir Kinder, hatten eine Schulbildung mit großen Unterbrechungen, mussten uns immer wieder an die neuen Schulen gewöhnen. Für uns, die als Kinder nur Ukrainisch gesprochen haben, war die Eingliederung in das russische Schulwesen sehr schwer. Die Schulen, wo wir waren, waren meistens Kinder von Verbannten und Repressierten. Damals habe ich das nicht verstanden."
Animationsfilm „Nikolaj Wlasenko. Ein sowjetischer Zwangsarbeiter“. Regisseurin: Alöna Todorova. Museum Berlin-Karlshorst, 2023.
Die Familie ließ sich in Horliwka (Gebiet Donezk, Ukraine) nieder, wo Vater Wassilij als Bergarbeiter arbeitete. Nach seinem Tod im Dezember 1935 arbeitete die verwitwete Mutter in einer Küche, und Nikolaj begann mit 12 Jahren in der Mine zu arbeiten. Er verließ die Schule nach der sechsten Klasse, und ließ sich zum Schlosser ausbilden. Ab Mai 1940 arbeitete er in einer Maschinenfabrik:
"Nur eine Freude gab es für mich, am Sonntag zu meinem Freund zu gehen, der Tauben hatte, Fußball auf dem Fabrikstadion zu schauen oder einfach nur im Park zu sitzen und in Ruhe Bücher zu lesen. "
„Auf dem Speicher unseres Arbeiterwohnheimes fand ich zufällig Bücher eines entlassenen Buchhalters. Die Bücher waren versteckt, weil es sich um verbotene ausländische Schriftsteller handelte, die verboten waren. Das waren überwiegend harmlose Liebesromane, Märchen, aber sie waren verboten. Ich las im Park unter der Straßenlaterne, weil die Glühbirne zu Hause zu schwach war. So lernte ich die Werke der Gebrüder Grimm, Andersens und zum Beispiel Henry-René-Albert-Guy de Maupassant kennen.”
Im Februar 1941 wurde Nikolaj zur sowjetische Armee einberufen. Er wurde im Gebiet Lwiw (Ukraine) stationiert, das nach der Besetzung Polens 1939 an die UdSSR angeschlossen wurde. Nach dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion 1941 herrschten in der Roten Armee chaotische Zustände. Nikolaj schaffte es, von Lwiw bis nach Kyjiw (Ukraine) zu gelangen. Aus Angst vor Bestrafung für die Desertation meldete er sich bei der Kyjiwer Militärregistratur. Dort riet man ihm, unter Berücksichtigung seines jungen Alters und der Panikstimmung in der Armee, nach Hause zurückzukehren. Nikolaj erfuhr auf dem Weg nach Basiliwschtschyna, dass Poltawa bereits von deutschen Truppen besetzt war.
Während der Besatzung arbeitete Nikolai auf einem Pferdehof. Die Besatzungsbehörden zwangen ihn, Vieh von Bauern zu konfiszieren. Er erinnerte sich, wie schrecklich dies für die Familien war, aber als 17-jähriger sah er keinen Ausweg aus der Situation. Ende Mai 1942 trieb er Kühe zum Bahnhof, die zum Schlachthof transportiert werden sollten, um damit die deutsche Armee zu versorgen. Nikolaj behielt die letzten Minuten in Freiheit für immer in seiner Erinnerung:
"Plötzlich sahen wir zwei uniformierte Menschen über die Brücke gehen: einer war ein deutscher Soldat, der andere ein Ukrainer, sein Dolmetscher. [...] Da ich nur das Vieh zur Bahnstation bringen musste, hatte ich gar keine Dokumente mitgenommen. [...] So wie ich war, ganz nass vom Schwimmen, wurde ich unter Bewachung des deutschen Soldaten in das Gebäude der Bahnstation gebracht und in einem Zimmer eingesperrt. Ich verbrachte die erste Nacht allein und hoffte auf baldige Entlassung. [...] Am meisten machte ich mir Sorgen um meine Großeltern und dass sie nichts über meine Situation wissen werden und vor Kummer und Einsamkeit im Alter nicht ohne mich zurechtkommen. Am nächsten Tag wurde ich in die örtliche Schule [...] gebracht. Ich war überzeugt, dass meine Verhaftung ein Missverständnis war, aber in der örtlichen Schule waren bereits viele Jungs in meinem Alter versammelt. [...] Dann kam der Tag der Verladung in Viehwagons. Da war klar, dass wir unsere Verwandten nie wieder sehen werden."
Beim Einsteigen dachte Nikolaj an Flucht, verdrängte diesen Gedanken jedoch, als er sah, wie deutsche Soldaten einen Flüchtigen im Heuhaufen fanden und ihn vor Augen der Gefangenen aufhängten. Nikolaj konnte sich nicht genau erinnern, durch welche Städte er fuhr und wo er arbeitete, aber er erwähnte Poltawa, Kyjiw, Lwiw und dann Ljubljana (heute Slowenien):
"Trotz der Angst verspürte ich ein großes Interesse, wie die Welt aussieht."
Im Lager nahe Ljubljana durchliefen sowjetische Zwangsarbeiter eine sog. „Desinfektion“. Man untersuchte sie auf Läuse und rasierte sie gewaltsam. Nikolaj wartete nicht, bis er an der Reihe war, ergriff ein Rasiermesser und rasierte sich selbst. Darauf wurde er gezwungen, andere Zwangsarbeiter:innen zu rasieren:
„Ich war 18 Jahre und plötzlich standen nackte Frauen aller Altersgruppen vor mir und ich musste deren Kopf- und Schamhaare abrasieren. […] Die älteren Frauen haben diese Erniedrigung stoisch ausgehalten, aber die jungen Mädchen versuchten sich mit Händen zu schützen. Ungefähr 200 Frauen waren da. Den ganzen Tag habe ich sie rasiert, danach ging es mir sehr schlecht: nicht nur körperlich, weil ich den ganzen heißen Junitag dort stand, aber vor allem psychisch konnte ich nicht verkraften, was passiert war. Zwei Tage lang lag ich danach auf der Pritsche in der Baracke. Meine Beine und Arme waren geschwollen“.
"Ich wollte, aber konnte nicht weinen. Ich sah nur die nackten Frauen stehend mit entsetzten Gesichtern."
Nikolaj Wlasenko nach Ankunft in das Reichsbahnausbesserungswerk in Freimann als Zwangsarbeiter, ca. 1942, Fotograf unbekannt, Museum Berlin-Karlshorst.
Eine Woche später wurde Nikolaj zusammen mit anderen sowjetischen Zwangsarbeiter:innen nach Innsbruck (Österreich) deportiert. Dort verbrachte er zwei Wochen, bevor er nach München (Bayern) verlegt wurde. Im Herbst 1942 begann Nikolaj im Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) im Münchener Stadtteil Freimann (Bayern) zu arbeiten, wo Lokomotiven gewartet und repariert wurden. Das Zwangsarbeiter:innenlager war zwei Kilometer vom Werk entfernt. Nikolaj war Hilfsarbeiter: er fertigte Weichen, baute Signalbrücken sowie andere Metallkonstruktionen und reparierte Schlösser in der Werkstatt.
Im Februar 1943 lernte Nikolaj in der Werkstatt Maria Rewjakina kennen, die wie er aus der Sowjetunion kam und auch Zwangsarbeit leisten musste. In einem Brief bot er ihr an spazieren zu gehen. Sie begannen sich zu treffen. Nikolaj und Maria sangen gern, zu ihrem Geburtstag im Februar 1944 schenkte er ihr eine Sammlung von Gedichten und Liedern. Karteikarten, auf die er sie niederschrieb und illustrierte, tauschte er gegen Brot.
Am 3. März 1944 wurde Nikolaо nach falschen Anschuldigungen ins Konzentrationslager Dachau (Bayern) gesteckt und anderthalb Monate später in die Dachauer Nebenlager in Allach bei München, überführt. Er erinnert sich an die schwierigen Arbeitsbedingungen im Konzentrationslager:
"Nach der Rückkehr aus Dachau und Allach Ende Mai 1944 sah ich wie ein Skelett aus; vom Essen konnte ich weitere zwei Monate nicht genug haben. All diese Tagen hat mich nur die Liebe zu Maria am Leben gehalten. Ich begann gut zu arbeiten, um nicht noch mal ins KZ zu kommen."
Maria Wlasenko (Rewjakina) nach Ankunft in das Reichsbahnausbesserungswerk in Freimann als Zwangsarbeiter, ca. 1943, Fotograf unbekannt, Museum Berlin-Karlshorst.
Nach seiner Rückkehr aus Dachau machte Nikolaj Maria einen Heiratsantrag. Die Lagerleiterin genehmigte ihnen die Heirat, worauf sie im November 1944 ihre Ehe schlossen. Nikolaj erinnert sich, wie sie dafür zum Münchner Marienplatz gingen, während US-Truppen die Stadt bombardierten:
„Wir gingen zum Marienplatz, dort konnten Ausländer Ehenschließen. An dem Tag wurde schrecklich bombardiert. Die Straßenbahn stand still, wir mussten bis zum Marienplatz 11 km zu Fuß gehen. Wir trauten unseren Augen nicht: das Alte Rathaus war sehr stark beschädigt und die Frauenkirche brannte […]. Wir fragten, wo das Standesamt ist und wurden ins Neue Rathaus geschickt. Wir gingen ins Gebäude rein, überall waren Feuerwehrleute, die das Feuer löschten. Wir mussten lange warten, bis das Feuer gelöscht wurde.“
"Im Raum, wo wir getraut wurden, waren die Wände pechschwarz vom Feuer, kein einziges Glas mehr im Fenster. Am 27. November 1944 war es sehr kalt. In dieser Stimmung gaben wir uns das „Ja“-Wort, wurden offiziell zu Mann und Frau und machten uns sofort auf den Rückweg ins Arbeitslager."
Kopie der Heiratsurkunde von Nikolaj Wlasenko und Maria Rewjakina, 1946, Arolsen Archives.
Am 3. Dezember 1944 feierten Nikolaj und Maria ihre Hochzeit mit anderen Lagerinsassen und ihren Vorgesetzten. Danach bekamen sie einen Platz in der Familienbaracke. Bald darauf wurde Maria schwanger.
Nikolaj arbeitete fleißig weiter, mochte die Schlosserarbeit und versuchte dadurch seine Vorgesetzten zu beeindrucken, weil ihr Wohlwollen seine Haftbedingungen verbesserte:
„Ab Dezember 1944 hatte ich Schlüssel zu allen Räumen und wusste, wo alles liegt: Werkzeug, Ersatzteile, Essen. Ich fühlte mich verantwortlich. Auch danach, als die Amerikaner kamen, habe ich mit diesen Schlüsseln alles geöffnet und gezeigt.“
Am Ende des Krieges gestattete man ihm einen Zuverdienst:
„Als ich zum Leiter aufgestiegen war, durfte ich nach der Arbeit auch Kinderspielzeug machen, das konnte ich sehr gut. In der Halle gab es immer Metallreste. Ich durfte nur nutzlose Abfälle nehmen. Daraus fertigte ich mechanisches Spielzeug für Kinder aus Metall, Blech und gefalztem Weißblech. Das waren kleine Spielzeugkinderwagen, bewegliche Hühner, Schmetterlinge auf Rädern, springende Pferdchen und Hunde. Das durfte ich verkaufen oder in Lebensmittelkarten umtauschen. […]Aus Silbemünzen fertigte ich auch Schmuck wie Ohrringe oder Ringe für „Ostarbeiterinnen“, sie wollten auch schön aussehen. Diese Arbeit brachte mir viel Spaß und Freunde. Für einige bayerische Bauern habe ich auf Anfrage Ersatzteile für ihre Pferdekutschen hergestellt. Die deutschen Arbeiter haben von meinen Künsten weitererzählt.“
Amerikanische Truppen befreiten München am 30. April 1945. In das Arbeitslager in Freimann, so Nikolaj, kamen sie am 5. Mai 1945:
"Welch ein Glück, dass sie [amerikanische Truppen] kamen! Und sie sangen, natürlich sangen sie auf Englisch, wir kannten [die Sprache] nicht. Sie gaben uns Lebensmittel und Fleisch aus Argentinien, es war eingefroren. Wir hatten aber keinen so großen Kühlschrank. Unserer war klein, und er war mit Fleisch vollgestopft, und dann bekamen wir Mahlzeiten mit Fleisch."
Nach der Befreiung beschlossen Nikolaj und Maria aus Angst vor Verfolgung nicht in die UdSSR zurückzukehren. Damit amerikanische Behörden sie nicht in die sowjetische Besatzungszone auslieferten, nahm Nikolaj offiziell eine Arbeit bei bekannten Bauern auf, für die er Ersatzteile für Pferdefuhren anfertigte. In der Folgezeit schlug er sich zusammen mit Maria über viele Jahre als Displaced Persons mit verschiedenen Jobs durch. Dabei zog die Familie in andere Städte und Länder um. Nikolaj arbeitete als Automechaniker, Schlosser, und briet Hühner in einer Küche auf dem Oktoberfest, Maria ließ sich zur Näherin ausbilden. Sie bekamen zwei Kinder.
Als Ostarbeiter und Ostarbeiterinnen wurden während des Zweiten Weltkrieges Zwangsarbeiter:innen aus der Sowjetunion bezeichnet.
Fragebogen für „Displaced Persons“ ausgefüllt von Maria Wlasenko. 1945, NS-Dokumentationszentrum München.
Im Feld Staatsbürgerschaft steht „staatenlos“, als „gewünschter Zielort“ gab sie die „USA“ an. Im Kommentar steht: „nicht in die Heimat zurückführen. Politische Gründe“. Familie Wlassenko bekam kein Visum für die USA.
Nikolaj und Maria konnten nur über Briefe, die zensiert wurden, mit ihren Familien Kontakt halten. Erst 1959 erhielten sie Reiseausweise für Ausländer, worauf hin sie in den 1970er Jahren erstmals mehrfach ihre Familien in der Sowjetunion besuchten. Treffen mit Marias Familie fanden, laut Nikolajs Erinnerungen, in einem Hotel in Stawropol (Russland) statt unter stetiger Beobachtung des KGB.
Bis an ihr Lebensende lebten sie in München. Maria Wlasenko verstarb 2014, im Jahr 2021 starb Nikolaj Wlasenko.
KGB ist die russische Abkürzung für Staatliches Sicherheitskomitee. Dies war das zentrale sowjetische Organ für Aufklärung und Gegenaufklärung und bestand von 1954 – 1991. Zu seinen Aufgaben zählte der Schutz des Staates vor äußeren und inneren Gefahren, wie z. B. Spionage und die Verfolgung von politischen Gegnern. Der KGB verfügte über breite Vollmachten und versuchte das Leben der sowjetischen Bürger durch Verhöre, Bespitzelung, Verhaftungen, und Folter zu kontrollieren.
Verfasserin: Alöna Todorova
Quellen:
Elena Kuhlen: Biographische Studie zu Nikolai und Maria Wlasenko, erstellt für das NS-Dokumentationszentrum München, 2021.
Video-Interview von Elena Kuhlen mit Nikolaj Wlasenko, NS-Dokumentationszentrum München, 2021.
Fotos und Dokumente: NS-Dokumentationszentrum München, Archiv der Familie Wlasenko, Museum Berlin-Karlshorst, Arolsen Archives.
Nikolaj Wlasenko arbeitete im Reichsbahnausbesserungswerk im Münchener Stadtteil Freimann wie